Verzweifelte Suche nach dem Mörder der Tochter
War es ein Unfall? War es ein Suizid? Oder wurde Sandra getötet? Davon ist ihre Mutter überzeugt – und will Antworten.
Auf dem Esstisch ist für Sandra gedeckt. Am Stuhl hängt ihre Jacke und überall im Haus stehen Bilder, vor denen Gedenkkerzen flackern. «Mit all dem halte ich meine Tochter lebendig», erzählt Malgorzata Gallinger (47).
Die Hausfrau mit polnischen Wurzeln lebt mit ihrem Mann Jürgen (54) und Sohn Thomas (22) in einem schmucken Haus in Wehrden (D). Doch Malgorzata kann all das nicht mehr sehen. In ihrem Kopf dreht sich nur eine Frage: Wer ist der Mörder meiner Tochter? Wer hat uns das alles angetan? Man sieht der leidgeprüften Frau sofort an, wie schwer sie am Verlust ihrer einzigen Tochter trägt. «Es gibt keinen grösseren Schmerz», sagt sie. «Ich muss wissen, was passiert ist, ich muss wissen, wer das getan hat. Ich werde niemals aufhören, den Mörder meiner Tochter zu suchen. Das habe ich Sandra am Grab geschworen.»
Am Abend des 15. Juni 2013 warten die Eltern auf ihre 17-jährige Tochter. Das junge Mädchen hat kürzlich die Schule beendet und einen Ausbildungsplatz als Hotelkauffrau gefunden. Am 1. August soll es losgehen. Da nachts kein Zug mehr fährt, hat sie sich in der Nähe des Arbeitgebers ein WG-Zimmer gemietet, seit einiger Zeit auch dort schon unregelmässig übernachtet. Doch an diesem Abend kommt Sandra nicht nach Hause, stattdessen stehen um 21 Uhr zwei Polizisten vor der Tür. Sie zeigen den Eltern ein Bild, fragen, ob es ihre Tochter zeigt. Hintergrund: Ein Autofahrer hat in der Nacht zuvor unter einer Fussgängerbrücke ein schwerverletztes Mädchen gefunden. Es hat so lange gedauert, das Opfer zu identifizieren, weil weder Handy noch Papiere gefunden wurden.
«Ich habe nicht geglaubt, dass es Sandra ist, bin aber sofort mit meinem Mann und unserem Sohn in die Klinik gerast», erinnert sich Malgorzata. Doch als die Familie ankommt, kann sie nur noch hilflos zusehen, wie das Mädchen stirbt. Am 16. Juni, dem Hochzeitstag der Eltern, hört ihr Herz auf zu schlagen.
Die Polizei geht von einem Unfall aus. Malgorzata schüttelt schon damals den Kopf. «Sandra war nur 1,58 gross. Die Brüstung ist hoch. Sie konnte nicht einfach da hinüberstürzen!» Ein Suizid? Die Mutter ist entrüstet. «Meine Tochter war glücklich, freute sich auf den neuen Lebensabschnitt. Sie hatte keine Probleme und plante ihre Geburtstagsparty. Im November wäre sie 18 Jahre alt geworden.»
Für Malgorzata und ihren Mann bleibt nur eine Lösung: Jemand hat ihre Tochter in den Tod gestossen. Mit Absicht oder als Folge einer Rangelei. Beides ist möglich. Doch es gibt partout keine Zeugen. Was ist in der Nacht passiert? Die Polizei konnte trotz intensiver Befragungen nichts mehr herausbekommen und stellte das Verfahren schliesslich ein.
Doch das will Malgorzata nicht akzeptieren. Wieder und wieder geht sie durch die kleinen Gassen rund um die Fussgängerbrücke, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis zu finden. Immer wieder steht sie in der Polizeiwache, erzählt ihre Beobachtungen, die sie wie Mosaiksteinchen beharrlich zusammenträgt, in der Hoffnung, irgendwann ein Bild daraus formen zu können. Engagement, das belohnt wird. Sie schafft es, dass die Polizei die Ermittlungen wieder aufnimmt. Auf ihr Drängen hin wird ihr Fall im Juni 2019 sogar im Fernsehen bei «Aktenzeichen XY … ungelöst» gezeigt und damit bundesweit diskutiert. Zahlreiche Menschen haben sich danach gemeldet, wollen etwas gesehen, beziehungsweise gehört haben. Die Beamten ermitteln wieder auf Hochtouren. «Ich denke, es wird bald etwas passieren. Der Mörder kann doch mit dieser Schuld nicht zur Ruhe kommen. Er wird sich über kurz oder lang verraten, und irgendein Zeuge wird sich melden.»
So lange besucht Malgorzata mehrmals in der Woche die Unfallstelle, legt Blumen hin, geht regelmässig ans Grab, bringt ihrer Tochter frische Blumen aus dem eigenen Garten. «Dann spreche ich mit Sandra, streichle ihr Bild und verspreche ihr, dass ich ihren Tod aufklären, den Täter stellen und vorher keine Ruhe geben werde.»