«Ich will nicht mehr schweigen»

Ihre Kindheit war ­geprägt von Gewalt und sexuellem Missbrauch, was bis heute ihr Leben überschattet. In einem Buch beschreibt Gisela Föllmi eindringlich die damaligen Gräueltaten und wie es ihr als erwachsener Frau gelang, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten.

Es riecht nach verbrannter Haut. Das Kind schreit vor Schmerz. Doch immer wieder hält der Mann seine bren­nende Zigarette an die Fusssohle der Vierjährigen. Das ist keine sadistische Szene aus einem Gruselroman, sondern eine der unzähligen Torturen, die Gisela Föllmi, heute 57 Jahre alt, während ihrer Kindheit über sich ergehen lassen musste: schwerster sexueller Missbrauch, massive physische und psychische Gewalt.

Gisela war ein Jahr alt, als ihre Mutter sich scheiden liess und einen EDV-Spezialisten heiratete. Ihr neuer Papi war gut zu ihr. Doch zwei Jahre später, 1967, als ihre Schwester Anja zur Welt kam, wurde sie zum ungeliebten «Goof», der es weder dem rohen Papi noch dem gefühlskalten Mueti recht machen konnte.

Doch es kam noch schlimmer: Das florierende EDV-Geschäft kam ins Trudeln. Um weniger Lohn zahlen zu müssen, war der Stiefvater damit einverstanden, dass sein Angestellter Fuchs die siebenjährige Gisela badete. Im Bad der Büro-Wohnung zog er sie aus, befingerte sie überall und befriedigte sich dabei selbst. Andere Männer, ihr Stiefvater, ihr leiblicher Vater und sogar ihre Mutter vergingen sich an ihr.

«Ich musste für jeden zur Ver­fügung stehen und wurde wie eine Rolle Haushaltpapier he­rumgereicht, von dem sich jeder so viel abreissen durfte, wie er wollte», erzählt Gisela Föllmi. Im Alter von 13 Jahren wird sie nach einer wiederholten Vergewaltigung durch ihren Stiefvater schwanger. Ihre Mutter bringt sie zu einem Arzt, der eine Abtreibung vornimmt. Ein Jahr später wird sie, ohne es zu wissen, ste­rilisiert. «Neben der Gewalt gab es auch rettende Inseln: meine Schulfreundin Silvia und mein über alles geliebtes Meersäuli.»

Zu ihrem Schutz spaltete Giselas Psyche die Traumatisierungen ab. Es entstanden verschiedene innere Anteile. «Ich nenne sie meine innere Hilfstruppe. Sie besteht unter anderen aus der kleinen und der grossen ­Gisela und meiner inneren Sekretärin. Die kleine Gisela repräsentiert die Traumatisierungen, und die grosse Gisela steht für die er­wachsene Frau, die ich heute bin. Die innere Sekretärin tippt die erlebten Grausamkeiten in den Computer.»

Nach dem zweiten Suizidversuch stellt ihre Psychotherapeutin 2018 die Frage: «Wollen Sie überhaupt leben, Frau Föllmi?» Diese existenzielle Frage erschütterte sie, und schliesslich reifte in ihr ein Entschluss. «Bis Ende 2019 wollte ich mir Zeit geben, um mein Leben zu ver­ändern. Das gab mir Kraft.» Zu diesem Finden gehörte der Umzug nach Einsiedeln. Im neuen Heim schien sie endlich etwas zur Ruhe zu kommen. Doch die Dämonen der Vergangenheit quälten sie weiter.

Kraft gibt ihr auch Röbi, den sie 2001 heiratete. «Er hielt immer zu mir.» Es war ein schwieriger Weg, den sie gemeinsam gingen. «Meine Mutter und mein Stief­vater haben auch mein Erwachsenenleben vergiftet.» Gisela Föllmi hat ihre Eltern nie zur Hölle gewünscht. Sie dachte immer, dass sie selbst schuld sei. Und dass sie keine Existenzberechtigung habe.

Ihr über 80-jähriger Stiefvater kann für seine Schandtaten nicht mehr belangt werden. «Gerechtigkeit kann nur ich mir schenken. Ich muss mit mir ins Reine kommen, versuchen, mit meiner Geschichte Frieden zu schliessen und die Schrecken der Vergangenheit in meine Biographie zu integrieren.»

Seit zehn Jahren schrieb sie etliche Erinnerungen auf und dachte bei jeder, dass die Bandbreite an Grausamkeit erreicht sei. Sie wusste nicht, dass diese Texte nur die Spitze des Eisbergs waren. Die Türen des «Schlimme-Dinge-Schranks» sprangen im Frühling 2020 auf. «Alle darin verschlos­senen Erinnerungen stürzten auf mich ein.» Nun begann sie, wie besessen zu schreiben. «Die kleine Gisela hat mir alles erzählt, und meine innere Sekretärin brachte es zu Papier. Dadurch begann meine Heilung.» Im Dezember 2020, als alles nieder­geschrieben war, erleidet sie einen Nervenzusammenbruch.

Am 6. März 2020 erinnerte sich Gisela Föllmi, wie eingangs erwähnt, an die verbrannten Füsse. Das war zu viel für sie. Ihr wurde klar, dass sie das alles nicht mehr mit sich allein ausmachen wollte. Es musste raus. Daraus entstand der Gedanke, alles in einem Buch zusammenzufassen. Beim Schreiben half ihr eine grosse innere Kraft, sich den Traumata zu stellen. Es war wohl die­selbe Kraft, die das Kind damals nicht zerbrechen liess.

Mit ihrem Buch bricht sie das Schweigen über ein Tabu. «Das Schreiben half mir zum einen, mein Leben zu ordnen und zu verstehen, was mit mir geschah. Zum anderen hoffe ich, dass es betrof­fene Menschen ermutigt, Hilfe zu suchen. Es ist falsch, wenn sich die Opfer von Gewalt und Missbrauch schämen, sich selber die Schuld geben und dadurch im Schatten des Lebens ein Dasein fristen, das sie nicht verdient haben. Schämen müssen sich die Täter, sie allein tragen die Verantwortung.» Gisela Föllmi wünscht sich, dass die Erwachsenen genauer hinschauen und den Kindern gut zuhören. «Kinder, die Gewalt und Missbrauch ausgesetzt sind, brauchen unsere Hilfe. Sie sind unschuldig und können sich nicht zur Wehr setzen. Sie sind ausgeliefert!»

Buchtipp

Gisela Föllmi: «Das Schweigen ­brechen − Wie ich lernte, das Unsag­bare in Worte zu ­fassen», Verlag ­Wörterseh,Fr. 34.90.