Schicksale
Frei nach fast 43 Jahren Gefängnis
Nach mehr als vier Jahrzehnten hinter Gittern ist Reinhard J. nun entlassen worden. Wie findet er sich nach so langer Zeit im Alltag zurecht?
Seine Gefängniszelle in der Justizvollzugsanstalt Waldeck (D) ist ausgeräumt. Vor wenigen Wochen zog Reinhard J. (68) um in die Ferne. 42 Jahre und 308 Tage sass der schmächtige Mann (1,76 Meter, 49 Kilo) aus einer Mecklenburger Kleinstadt im Knast. Weil er 1978 und 1979 zwei Frauen erwürgt hat. Besuch bei einem Doppelmörder und die Frage: Wie schmeckt Freiheit?
Als Ermittler der Schweriner Mordkommission dem gelernten Fleischer am 1.Mai 1979 die Handschellen anlegten, gab es noch zwei deutsche Staaten. Erich Honecker (†81) regierte die DDR. «Mein Leben war schön. Nebenberuflich handelte ich mit Dingen, die es kaum gab. Holz oder Fliesen gehörten dazu», erinnert er sich in der «Bild am Sonntag». Kunden zahlten nicht selten in harter Währung. Es gab Monate, da hatte er mehr West- als Ostmark in der Tasche. «Wären da nicht…» Er kann, er will nicht weiterreden, flüstert in gebückter Haltung: «…die grössten Fehler meines Lebens gewesen. Ich bereue alles so sehr.»
Recherchen ergaben: Reinhard erwürgte 1978 erst Uta H. (21) und ein halbes Jahr später Petra R. (16). Uta wollte seine Schwarzmarktgeschäfte auffliegen lassen – ihr Todesurteil. Petra wusste davon, was auch ihr zum Verhängnis wurde. Lebenslänglich lautete Ende August 1980 das Urteil. 25 Jahre Gefängnis hiess das im Osten. Warum wurden daraus fast 43 Jahre in den Haftanstalten Brandenburg, Bützow und Waldeck? Nach mehr als vier Jahrzehnten hinter Gittern ist Reinhard J. nun entlassen worden. Wie findet er sich nach so langer Zeit im Alltag zurecht? Ein Foto von 2014 zeigt den Gefangenen in seiner Zelle. Reinhard J. sitzt auf einer Parkbank: Er ist auf Probe in Freiheit.
«Mehrere Anhörungen, verbunden mit Anträgen auf Haftentlassung, wurden abgewiesen», sagt Reinhard. Laut den Justizbehörden war er nicht reif für ein Leben in der Öffentlichkeit. Das änderte sich nun. Als einer von insgesamt fünf noch in der DDR verurteilten einsitzenden Straftätern ist er jetzt draussen! Auf Probe. Denn seine Zelle ist zwar leer, wird aber nach wie vor für ihn freigehalten.
Seit März absolviert er in einer Einrichtung für betreutes Wohnen (Ort und Träger müssen geheim bleiben) die letzte Lockerungsstufe eines Langzeit-Strafgefangenen vor der offiziellen Entlassung im Spätsommer. Ein selbständiges Leben mit allen Möglichkeiten, die das Gesetz erlaubt. «Wohnen auf Probe» nennt er das. Selbst bei dem kleinsten Verstoss (Beispiel: Diebstahl im Supermarkt) fährt er wieder ein. «Wird nicht passieren», verspricht er.
Die Freiheit schmeckt ihm zu gut. Aber was bedeutet Freiheit eigentlich für ihn? Ein eigenes Auto fahren? Ein Kinobesuch? Eine Reise unternehmen? Oder 90 Minuten Live-Fussball im Stadion erleben? Seine Antwort lautet ganz anders: «Wenn ich morgens einen Hahn krähen höre. Oder einen eigenen Schlüssel für ein Zimmer besitze. Und wenn ich mir eine Schlaghose kaufen kann, und zwar eine, wie ich sie damals als junger Mann trug. Sie war mein ganzer Stolz.» Doch in Gedanken ist er noch weit entfernt von einem Leben im Hier und Jetzt. Er bekam vorerst ein zwölf Quadratmeter kleines Zimmer. Mit knapp 30 anderen Frauen und Männern ist er zusammen. Ums Essen muss er sich nicht kümmern. Das machen Mitarbeiter. «Es schmeckt», sagt er. Selbst seinen Wünschen, wie dem geliebten Nudelsalat, wird entsprochen.
Behördengänge und -gespräche sind noch zu hohe Hürden. An Ausflüge, Reisen, Einkaufstouren oder Ähnliches denkt er noch gar nicht. Das liegt einerseits am Geld (er bekommt aktuell 40 Euro pro Monat), vor allem aber an seiner Krankheit. Er kann kaum zehn Meter gehen. «Meine Lunge ist dreifach gerissen. Folge einer Entzündung.» Deshalb muss er immer wieder in die Klinik. Später will er mal an die Ostsee. Freunde? Aus der Jugendzeit ist keiner mehr da. Neue hat er noch nicht gefunden. Eine Handvoll gibt es aus der JVA Waldeck. Reinhard zählt den Anstaltspfarrer dazu. Durch ihn fand er zu Gott. «Ich bete jeden Tag», sagt er. Verwandte? Was ist mit einer Partnerin? Reinhard schüttelt den Kopf. Seinen Tag verbringt er fast ausschliesslich im Garten der Wohnanlage. Gerne sitzt er in der Raucherecke. Aus Gewohnheit. «Im Knast rauchte ich zwei Schachteln pro Tag weg. Zurzeit dürfte ich mir nicht eine anstecken. Acht werden es dann aber doch.» Um davon ganz wegzukommen, guckt er viel fern. «Ich habe hier ungefähr 800 Programme. Meine Lieblingssender sind alles Nachrichtenkanäle.» Mit der Elektronik steht er allerdings auf Kriegsfuss. Computer, Laptop, Smartphone, ECbeziehungsweise Kreditkarte, Internet – für ihn eine total surreale Welt. Er besitzt jetzt ein Uralt-Handy, mit dem er aber nicht einmal fotografieren kann.
Noch hat Reinhard den Tagesrhythmus aus dem Gefängnis verinnerlicht. Manchmal schläft er aber schon etwas länger. Weil er anders träumt als im Knast. Dort träumte er von der Freiheit. Jetzt träumt er vom Gefängnis. Dann wacht er nachts plötzlich auf, um schliesslich wieder ganz fest einzuschlafen. Weil er weiss: Das war eben wirklich nur ein Traum. PS.: Kann man einem Mörder nach 43 Jahren vergeben? Torsten H. (58, Polizist), Bruder der 1979 ermordeten Uta H.: «Dass der Mann mal rauskommt, war ja klar. Das ist nun mal so bei uns. Andere sitzen für noch schwerere Taten manchmal viel weniger ab. Fragen Sie das aber bitte nicht meine Mutter…»