Dank Märchen raus aus der Einsamkeit
Der Ehemann war gestorben, die Kinder waren längst ausgezogen. Um ihrem Leben wieder Sinn zu geben, ging Gisela Wagner neue Wege.
«Die Mädchen in den Märchen trauen sich, ihren eigenen Weg zu gehen und werden für ihren Mut belohnt. So war es auch bei mir», erzählt Gisela Wagner (80). Die gelernte Kauffrau aus Bielefeld (D) war schon über 50 Jahre alt, als sie sich für das traditionelle Geschichtenerzählen zu interessieren begann.
Nach dem Tod ihres Mannes fühlte sie sich einsam und spürte, dass sie etwas ändern musste. Als ersten mutigen Schritt besuchte sie mit Anfang 50 einen Literaturkurs an der Volkshochschule. «Das Thema waren Märchen, und ich lernte von den Figuren, dass das Schicksal es gut mit denen meint, die ihren eigenen Weg gehen, die sich was trauen, auch mal was riskieren.» Und dann erzählt sie von Aschenputtel und Goldmarie, die emanzipiert ihr Leben in die Hand nehmen und auch für sie ein Vorbild werden.
Gisela nimmt ein Studium auf, schreibt eine Arbeit über die «Symbole in Märchen» und belegt die Kurse der Europäischen Märchengesellschaft. Sie lernt Leute aus ganz Deutschland kennen, die wie sie von den Erzählungen fasziniert sind.
Früher schüchtern und zurückhaltend, traut sie sich mit 62 Jahren zum ersten Mal vor ein Publikum. «Ich war furchtbar aufgeregt», erinnert sie sich. «Aber als ich in die gespannten Gesichter meiner Zuhörer sah, wusste ich, dass ich es gar nicht so schlecht mache.» Sie wird immer häufiger gebucht, gewinnt ganz viel Selbstvertrauen, wird besser und besser.
Rund 50 Auftritte hat sie in den folgenden Jahren und feilt immer weiter an ihrer Erzählkunst. Sie sucht sich neben den Klassikern der Gebrüder Grimm auch spannende, häufig unbekannte Märchen heraus, die die Kinder zum ersten Mal hören. Und sie will ganz perfekt werden: Sie lernt Atemtechniken, macht Stimmübungen, trainiert Betonungen und Tonlagen richtig einzusetzen. Heraus kommen Märchenstunden, bei denen die kleinen und grossen Märchenfreunde so gebannt zuhören, dass sie die Welt um sich herum vergessen.
«In Märchen ist die Welt überschaubar, es gibt feste Gesetze und am Ende Lösungen. Das baut auf und macht optimistisch», erklärt Gisela Wagner. «In den meisten Erzählungen finde ich auch meine eigene Entwicklung wieder. Ich verdanke den Märchen ganz viel.»