Mit 160 k m/h in eine neu artige Welt

Seit Ende 2021 rast der neue Hochgeschwindigkeitszug LCR durch Laos und schleudert das Land in eine ­chinesisch geprägte Zukunft.

Von Sonja Hüsler

Der 38-jährige Souk Xay Sisombath sitzt auf Platz 2C der Laos China Railway LCR. Es ist schon das zehnte Mal, dass Touristen-Guide Xay («so nennen mich meine Freunde») mit dem Zug von der laotischen Hauptstadt Vientiane nach Luang Prabang im Norden des Landes fährt.

In der überdimensionierten Bahnhofshalle in Vientiane hat Xay kurz vorher noch schnell ein Foto von sich geknipst und es seinen Freunden geschickt.

Die meisten von ihnen sind noch nie in diesem Zug gesessen: Sie leben in ein­fachen Holzhäusern oder Bambushütten und schicken ihre Kinder zum ­Waschen an den Fluss – Alltag im nicht stark entwickelten Laos.

«Für Westler ist es nichts Besonderes, in ein Flugzeug oder in einen Zug zu steigen, für uns Laoten jedoch schon», erzählt Xay. Für sie bedeute dieser Zug die Zukunft. «Die neugewonnene Mobilität kommt ­einem Quantensprung gleich.»

In Laos pflegte man bisher – falls überhaupt – nur dann zu verreisen, wenn eine wichtige Familienfeier, etwa eine Hochzeit, anstand. Einerseits fehlt den meisten der 7,5 Millionen Laotinnen und Laoten das notwendige ­Kleingeld für eine Reise. Andererseits musste man bisher für die Busfahrt von Vientiane nach Luang Prabang einen guten Tag einplanen, «über eine kurvenreiche, staubige Strasse, die durch das bergige Hinterland führt und so viele Löcher hat wie ein Salatsieb». In der am 3. Dezember 2021 in Betrieb genommenen LCR – es ist die erste ­Zugstrecke in der Geschichte von Laos – dauert diese Reise jetzt nur noch zwei Stunden und vier Minuten. Doch das ­Ticket in der 2. Klasse kostet 10 Franken – für die lange Busfahrt ist es knapp die Hälfte.

Immerhin: Der klimatisierte Hoch­geschwindigkeitszug (160 km/h) wirft ökonomisch einiges für das Entwicklungsland Laos ab. Denn die Schienen führen nicht nur bis nach Luang Prabang und dann bis zur Grenzstadt Boten, sondern weiter bis in die ­südchinesische Stadt Kunming.

Die LCR ist bloss ein Puzzleteil der ­neuen chinesischen Seidenstrasse, die in Zukunft bis nach Singapur führen soll ­(siehe Box auf der nächsten Seite). Der Export von Tee, Bananen, Rohr­zucker und vielem mehr Richtung China hat sich mit der Laos-­China-Eisenbahn vervielfacht. «Genaue Zahlen veröffentlicht die ­Regierung aber nicht», bedauert Xay.

Kritische Stimmen mahnen, dass China das kleine Laos ausbeute und sich durch die Zugstrecke sowohl einen neuen 

Handelskorridor als auch Zugang zu ­wertvollen Ressourcen erschliesse.

Xay mag das nicht kommentieren, gibt aber zu bedenken, dass bisher niemand in das autoritär geführte Land mit maroder ­Infrastruktur und schlechtem Gesundheitssystem investieren wollte und dass der Westen bisher kaum Interesse an Laos zeigte. «Wir sind neben Kambodscha und Myanmar das Armenhaus Südostasiens. Die LCR bringt uns viele Touristen und damit Arbeit, was in Wohlstand oder zumindest besseren Lebensumständen münden wird.» Die Sehnsucht der Laoten, an der modernen Welt teilzuhaben, ist immens. 

«Ich träume davon, meiner Tochter und meinem Sohn ein besseres Leben zu ermöglichen, als ich es hatte.» Xay erklärt, dass er als junger Bursche jeden Sonntagabend mit Reis für eine Woche alleine in die Oberstufenschule marschierte, die ­sieben Stunden entfernt lag. Nach dem ­Unterricht ging er auf den ­Bauernhof seines Lehrers. Der vertiefte mit ihm den Schulstoff, dafür musste er bis ­spätabends an­packen. Geschlafen hat Xay auf einer 80 cm breiten Holzpritsche.

Jeden Freitagabend kehrte er in sein Bergdorf an der laotisch-chinesischen Grenze zurück. Da er ein guter Schüler war, erhielt er ein Stipendium, und die Regierung erliess ihm die Universitätsgebühren. Dennoch mussten seine Eltern einen Büffel ver­kaufen, um Xay, der acht Geschwister hat, den Start und das Studium an der Univer­sität in der Hauptstadt Vientiane zu er­möglichen. Seither hat er sich zum Guide für Besucherinnen und Besucher aus dem Westen hochgearbeitet.

«Schauen Sie», Xay zeigt auf die Anzeige, die in chinesischer, laotischer und englischer Sprache nach zwei Stunden und zwei Minuten Fahrt über die Ankunftszeit in ­Luang Prabang informiert, «wir treffen auf die Minute genau ein.»

Man spürt mit jedem Wort die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.