Gut möglich, dass schon Ötzi hier war
Unsere Schneeschuhtour führt am Drehort des Bergsteigerdramas «Everest» vorbei in eine magische Gletscherhöhle, die es bald nicht mehr geben wird. In der Nähe schlug vor 5300 Jahren auch Ötzi sein Lager auf – ehe er elend verröchelte.
Von Sonja Hüsler
Robert Ciatti steht in Schneeschuhen vor der Schutzhütte «Zur Schönen Aussicht» auf 2842 Meter über Meer. Die einfach zugängliche Hütte mit Restaurant und Schlafplätzen thront hoch oben im Schnalstal im Südtirol (I).
Sie liegt 45 Minuten von Meran entfernt und zieht Skifahrerinnen ebenso an wie Winterwanderer. Jeden Freitag bricht Bergführer Ciatti mit Interessierten in die umliegende Gletscherwelt auf, um ihnen zu zeigen, was davon übrig geblieben ist. Höhepunkt der Rundtour ist eine Gletscherhöhle, die Ciatti selber entdeckt hat. Nur er und seine Kollegen wissen, wo der Eingang ist. «In zwei bis drei Jahren wird diese Höhle aber vermutlich verschwunden sein – wie viele andere auch, die ich entdeckt habe», berichtet der 71-Jährige, «das hat mir jedenfalls Georg Kaser gesagt.»
Kaser wohnt in einem kleinen Dorf etwas weiter unten im Schnalstal. Er zählt zu den bekanntesten Glaziologen und ist auch einer der einflussreichsten Klimaforscher weltweit.
Der Friedensnobelpreis, der 2007 dem ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore und dem Weltklimarat der Uno (IPCC) verliehen wurde, galt auch ein wenig ihm. Denn der inzwischen pensionierte Kaser arbeitete damals als Leitautor für den IPCC.
Bergführer Ciatti hat Kaser «seine» Gletscherhöhle am Hochjochferner gezeigt. «Gletscher werden bei uns Ferner genannt», erklärt Ciatti das für uns unbekannte Wort, das sich von Firn ableitet, was Altschnee bedeutet. Der verwandelt sich nach und nach in Eis beziehungsweise in einen Gletscher.
«In den letzten hundertsiebzig Jahren sind hier oben laut Kaser rund siebzig Prozent der Eismassen verschwunden, in einer warmen Sommerwoche schmelzen bis zu fünfzig Zentimeter Eis weg.»
Vor vierzig Jahren, als Ciatti als Bergführer begann, konnte er im Sommer noch über schneebedeckte Gletscher laufen. Heute gleicht es einer Mondlandschaft aus Geröll, Schutt und schmutzigem Schnee. «Eine sehr traurige Sache», sagt er nachdenklich.
Gleichzeitig ist Ciatti jedoch dankbar, dass er diese gigantische Gletscherlandschaft überhaupt erleben durfte. «Den nächsten Generationen ist das nicht mehr vergönnt.»
Denn es seien nur noch kümmerliche Gletscherzungen des Hochjoch- und Kreuzferner sowie der anderen Eisströme in dieser Region übrig geblieben, die zusammen eine Wasserscheide bilden.
«Habt ihr gewusst, dass das Wasser dieser Gletscher in die Adria, aber auch in die Donau und später ins Schwarze Meer fliesst?»
Es ist nicht das einzig Interessante, das der Bergführer auf der fünfstündigen Schneeschuhtour erzählt. Richtung Eishöhle stampfend, wartet Ciatti mit einer weiteren Überraschung auf.
Er zeigt auf einen Berg rechts neben dem Hochjochferner: «Das da ist unser Mini-Everest.»
Die Schwarze Wand sieht dem höchsten Berg der Welt tatsächlich ähnlich, darum wurde dort ein grosser Teil des Bergsteiger-Dramas «Everest» gedreht, das 2015 ins Kino kam. «Die Crew hatte Glück, bei den Dreharbeiten herrschte garstiges Wetter mit Temperaturen bis zu minus 22 Grad und starkem Wind», weiss Ciatti, «so konnten die Verhältnisse am Mount Everest perfekt simuliert werden.»
Weniger passend fänden allerdings die Hirten das Wetter hier oben, wenn es mal wieder verrücktspielt, bemerkt Ciatti lakonisch.
«Wir laufen jetzt gleich mit unseren Schneeschuhen auf ihrem Hirtenweg zur Eishöhle.» Stets Anfang Juni starten Einheimische aus den nahe gelegenen Ortschaften Kurzras und Vernagt im Schnalstal mit 3000 Schafen und Ziegen und führen diese über die italienisch-österreichische Grenze ins Tirol.
«Und das schon seit ungefähr achthundert Jahren», erzählt Ciatti. Seit 2019 gehört diese Art der Wanderweidewirtschaft, die Transhumanz genannt wird, zum immateriellen Unesco-Weltkulturerbe.
Am Schaftrieb im Schnalstal ist besonders, dass er der einzige grenz- und gletscherüberschreitende Wandertrieb der Welt ist.
«Es ist gut möglich, dass auch schon Ötzi vor 5300 Jahren dieselben Pfade benutzte, welche heute die Hirten wählen.»
Denn diese Pfade existieren schon seit etwa 6000 Jahren, und die Ötzi-Fundstelle liegt nur drei Stunden von der eindrücklichen Gletscherhöhle entfernt, in der nun die Gruppe angelangt ist.
Staunen vermischt sich hier mit Ehrfurcht. Die vergängliche, unwiederbringliche Schönheit der Höhle auf 2800 Meter über Meer, die wie ein riesiger Bergkristall aussieht, verschlägt den meisten die Sprache.
Kürzlich habe ein Gast zu Robert Ciatti gesagt, dass die Eishöhle «das Aussergewöhnlichste ist, was er je gesehen habe». Das hat etwas.