Alain Berset
Wie sehr müssen seine Liebsten um ihn bangen?
Die Corona-Massnahmen sind für einige unerträglich. Sie reagieren mit Aggressivität und Drohungen. Zielscheibe ist der Gesundheitsminister. Noch blieb es bei schriftlichen und mündlichen Attacken. Fedpol ist alarmiert.
Wie stolz ist die Schweiz, dass ihre höchsten Politikerinnen und Politiker wie jeder normale Mensch im Zug zur Arbeit fahren können. Ohne Bodyguards, ohne irgendetwas fürchten zu müssen. «Das ist nur bei uns möglich», sagen wir gern.
Ist die Zeit der Unschuld vorbei? Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) beschäftigt «die steigende Gewaltbereitschaft der Corona-Leugner-Szene» stark. «Die Entwicklung ist besorgniserregend», sagt Fedpol-Sprecher Florian Näf. Man beobachte zurzeit eine deutliche Zunahme von Unmutsbekundungen, darunter Drohungen im Zusammenhang mit den Corona-Massnahmen. Diese richteten sich vor allem gegen exponierte Stellen wie das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sowie gegen Politikerinnen und Politiker, die bei der Pandemiebekämpfung im Vordergrund stehen. Das ist an vorderster Front Alain Berset (48).
Seit Dezember patrouilliert die Berner Kantonspolizei vor dem Campus Liebefeld, dem Sitz des BAG. Auf Vorsteher Berset, den Überbringer von guten und schlechten Neuigkeiten zur Pandemie, sind die Augen und Ohren der Nation gerichtet. Viele haben sich inzwischen regelrecht in das Thema verbissen, die Szene der Corona-Leugnenden wird radikaler. Hass-Gruppen in den Sozialen Medien widmen sich spezifisch dem Thema Corona und Alain Berset, schaukeln sich gegenseitig hoch: «Alain, du läbsch gföhrlich», schreiben sie. Und drohen: «Wenn meinen Kindern etwas geschieht, dann hole ich euch Politiker bei euch zu Hause!! Wir kennen eure Adressen!!» Ein Bild von Berset mit Pistole am Kopf kursiert. Und Gastronomen rufen ein «lebenslanges Hausverbot in jeder Schweizer Gaststätte» für «Alain Berset, den Restaurant-Schlächter» aus.
Bei seinem Besuch am «Zurich Film Festival» im Herbst wagt sich eine Gruppe Pöbelender sogar persönlich an den Innenminister heran: «Sie sind ein Volksverräter, schämen Sie sich!» und «Lassen Sie sich selber impfen!» rufen sie Berset zu, bevor dieser – umringt von Sicherheitspersonal – in einem Kino verschwindet. Und letzte Woche rückten Polizei und Feuerwehr zweimal zum BAG-Sitz aus – wegen einer «verdächtigen, unbekannten Substanz», die laut TeleBärn per Brief ankam, am Ende aber als «ungefährlich eingestuft» wurde.
«Ein Repräsentant des Staates ist die exponierteste Figur, da er Massnahmen verantworten muss. Für einfache und aggressive Gemüter dient er als Zielscheibe», erläutert Psychoanalytiker Markus Fäh gegenüber der GlücksPost. «Ein Politiker darf nicht zu wehleidig sein, denn Gegenwind gehört zum Beruf. Gewaltandrohungen gehen aber zu weit und müssen ernst genommen werden.»
Wie ernst man in Bern die Lage nimmt, zeigt eine Erhöhung des Sicherheitsdispositivs nicht nur beim BAG. Laut Fedpol mussten in den letzten Monaten die Schutzmassnahmen für einzelne Personen neu beurteilt und verstärkt werden. Einzelheiten dazu gibt der Bund nicht preis. Sicherheitsexperte Jacques Baud, der selbst im EDA gearbeitet hat, sagt zu «20 Minuten»: «Meines Wissens haben die Bundesräte permanenten, aber diskreten Personenschutz. Dieser dürfte in dieser Situation noch verstärkt worden sein.»
Dass der eigene Mann, der eigene Vater von Sicherheitsleuten begleitet werden muss, weil ihm mit dem Tod gedroht wird, dürfte für Bersets Familie eine ungemütliche Wirklichkeit sein. Ob Gattin Muriel (48) und die gemeinsamen Kinder Antoine (17), Achille (15) und Apolline (13) auch geschützt werden oder gar Opfer von unschönen Briefen oder E-Mails wurden, ist nicht bekannt. Aber die Sorge um den Familienvater ist belastend genug.
«Diese Situation ist sicher nicht einfach», sagt Psychologe Fäh. «Man sollte die Vorfälle auf keinen Fall wegschieben. Man muss mit der Familie besprechen, was passiert. Es gehört in die Verantwortung des Vaters, der diesen Beruf gewählt hat, dass er die Situation für die Familie in ein erträgliches Licht rückt, einen psychischen Schutzschirm für sie aufbaut.» Mehr noch: Der Vater muss ein Sicherheitsgefühl ausströmen und vorleben. «Wir leben in einem sicheren Land. Diese Social-Media-Hater-Ausbrüche sind inakzeptabel und gehören strafrechtlich geahndet, man sollte sich von ihnen nicht mundtot machen lassen.» Eben diese Hass-Gruppen veranlassten den Bund letzten Sommer, den Personenschutz für Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu erweitern. Die Digitalisierung habe die Art der Drohungen verändert. «Auf den digitalen Kanälen und in den sozialen Medien ist die Hemmschwelle tiefer», schreibt der Bundesrat. Deshalb hat er zusätzlich auch die sogenannte Gefährderansprache verankert. Diese kommt zum Zug, wenn konkrete Gründe zur Annahme vorliegen, dass eine Straftat gegen eine zu schützende Person verübt zu werden droht.
Auch dies kam bei Alain Berset schon vor: Im Januar erhielt ein Internet-Droher Post vom Fedpol. In dem Brief heisst es: «Wir haben von Ihren Facebook-Posts vom 15. 1. 2021 um 13.03 und 13.04 Uhr an Bundesrat Alain Berset Kenntnis erhalten.» Man sei sich bewusst, dass die Corona-Situation belastend sei, schreibt das Fedpol weiter. Und warnt: «Sollten wir Kenntnis von weiteren solchen Kommentaren und/oder strafbaren Handlungen bekommen, behalten wir uns vor, rechtliche Schritte gegen Sie zu prüfen.» Wie viel dies gebracht hat, ist schwer zu sagen: Ein Foto des Fedpol-Briefs landete auf Corona-Skeptiker-Kanälen, versehen mit dem Kommentar: «Ich glaube es nicht.»