Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber
«Weihnachten ist wichtiger denn je!»
Seit Jahren kämpft er unermüdlich für die Randständigen, die Verlorenen der Gesellschaft. Grossen Halt neben dem Herrgott gibt ihm seine geliebte Frau Sonja. Jetzt bereitet er sich auf seine vielleicht letzten Weihnachten vor.
Fröhlich winkend kommt er mit seinem Mobil angetuckert. Gut eingepackt in einen dicken Mantel, mit Fellhut und Schal trotzt Pfarrer Ernst Sieber (88) der Kälte. Er weiss, warum er das tut: Bereits vier Lungenentzündungen hat er hinter sich. In diesem Alter kann das tödlich sein. Doch der Pfarrer glaubt an seinen «Chef», wie er Gott nennt. «Wenn er findet, dass es für mich Zeit ist, dann holt er mich schon.» Vorerst freilich möchte der Seelen- und Sozial-Fürsorger seinen Schäfchen helfen, die vom Leben gebeutelt wurden. Die Randständigen und Armen sind seine Freunde. Ihnen hilft er mit seiner Stiftung «Sozialwerke Pfarrer Sieber» (SWS).
Im Interview mit der GlücksPost spricht Pfarrer Sieber auch sehr ernste Themen an. Über seinen Tod macht er Sprüche. «Ich möchte einmal fröhlich sterben», sagt er verschmitzt.
GlücksPost: Sind Sie gut vorbereitet auf die stressigen Weihnachtstage?
Pfarrer Ernst Sieber: Ich bin fit, mir geht es gut. Ich mache jeden Tag einen stündigen Waldlauf, und zwar mit kräftigen Schritten. Das hält gesund.
Was bedeutet Ihnen Weihnachten ausser dem Fest von Christi Geburt?
Weihnachten wird im Hinblick auf die Werte von Westeuropa immer wichtiger. Es gibt gewisse Kräfte auf dieser Welt, die unsere Freiheiten zurückdrängen wollen. Da gilt es erst recht, sich bewusst zu sein, was Weihnachten dieser Welt gegeben hat: den Heiland. Das sollte uns alle im Herzen froh machen. Christus bedeutet Licht. Dieser Welt können wir statt mit Waffen nur mit totaler Liebe begegnen.
Ist das nicht etwas zu einfach, Liebe statt Waffen?
Überhaupt nicht. Wir liefern Waffen an Saudi-Arabien, und diese Leute geben dann die Waffen an den IS weiter. Wie heisst es doch so treffend: Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber. Jetzt gilt es erst recht, Weihnachten wieder hervorzuholen. Christus selber hat diese Dimension am eigenen Leib erlebt, diese Macht von oben, die es nicht ertrug, dass die letzten die ersten im Gotteshaus sein dürfen.
Wie kamen Sie dazu, Menschen zu helfen?
Es heisst: Ist jemand in Not und kann sich nicht selber helfen, hat er Anspruch auf soziale Hilfe. Auf die Mittel, ein menschenwürdiges Leben fristen zu können. Das steht selbst in der Bundesverfassung. In der Präambel dazu heisst es auf Lateinisch: Das öffentliche Heil ist das oberste Gesetz. Das ist auch Weihnachten. Oh, du fröhliche …
Wie sind Sie zur Theologie gekommen?
Als Bauernknecht. Beim Ackern habe ich an der Erde gerochen, das schmeckte damals wie Harz. Ich spürte die Natur ganz nah: werden, wachsen, blühen, vergehen. Im Stall lernte ich predigen. Und zwar mit den Kühen, die waren meine «Gläubigen». Der Meister glaubte an mich, sagte, wenn am Abend die Kühe alle auf eine Seite schauen, bekommst du zwei Franken. Dieses Angebot hat er bald zurückgezogen, weil ich ihm zu teuer wurde. Ich verdiente damals 30 Franken pro Monat. Nun verdiene ich seit Jahren überhaupt nichts mehr. Aber ich will doch auch nichts anderes als das Evangelium verkünden, frei und ungebunden sein und mir von niemandem etwas sagen lassen.
Sie waren öfter auch sperrig den Behörden gegenüber?
Ich habe nur Gehorsam vor Gott. Tue Dienst an seinem Wort gemäss altem und neuem Testament. Darum war ich manchmal auch starrköpfig gegen den Staat. Für meine Brüder und Schwestern gehe ich zuweilen mit dem Grind durch die Wand.
Ihr Vorbild?
Das ist mein Müeti. Ich sah sie beten, das hat mich tief beeindruckt. Ich verliess die Schule früher, als ich durfte, in der dritten Sek holte man mich aus dem Stall. Man schlug mir vor, Schauspieler, Maler, Bildhauer oder Bauer zu werden. Ich wollte Pfarrer werden. Die Theologie habe ich im Wald gelernt. Latein, Griechisch, Hebräisch, alles auswendig gelernt, ich holte die Matura nach.
Wie wurden Sie zum Obdachlosen-Pfarrer Sieber?
Es begann wahrscheinlich damit, dass ich in den 1960er-Jahren Partei für die Jugendlichen, die Jugendbewegung nahm, Bunker- und Globus-Krawall und Hell’s Angels. Mit deren Boss Tino bin ich mit 180 km/h auf dem Sozius über die Strassen gebrettert. Ich lernte bei denen, dass Menschen keine Grenzen haben. Die Theologie ist für mich die Grundlage des Helfens. Es braucht eine klare Ethik für die Wirtschaft – und für die Liebe.
Im nächsten Februar werden Sie 89.
Ich habe mich mein Leben lang mit dem Tod beschäftigt. Im Innersten freue ich mich auf das Ende, weil ich dann weiss, jetzt will mich der Chef, der mich mein Leben lang verschont hat. Lebensmüde hingegen bin ich noch lange nicht. Ich besinne mich all der Menschen, die mich noch brauchen. Vielleicht ist das auch meine letzte Weihnacht. Ich werde sie jedenfalls so feiern, als ob sie meine letzte ist. Vorher aber möchte ich noch ein Herzensprojekt verwirklichen: Ich möchte ein Weihnachtsdorf bauen. Es soll ein Dorf der Solidarität werden. Die Werte von Weihnachten dürfen nicht versteckt werden. Bevor das noch nicht geschafft ist, komme ich noch nicht, sagte ich zum Herrgott.
Wie feiern Sie selber Weihnachten?
Unsere Kinder laden meine Frau Sonja und mich ein. Meistens lege ich mich aufs Sofa, weil ich vorher schon selber bei mehreren Feiern dabei war: Sunne Egge, Sunne Boge, Spiesshof, Pfuusbus. All diese Menschen haben auch kalt im Sommer, deshalb fängt bei uns die Winterarbeit schon im Sommer an.
Wie meinen Sie das?
Wenn die Menschen Schmerzen im Herzen haben, sich alleine fühlen, beruflich kaputt sind, ihre Firma in Konkurs gegangen ist, dann verlieren sie oft ihren Halt. Diese Art Kälte tut sehr weh. Am Sonntagmorgen hocken sie dann vor meinem Haus und wollen Geld. Sie alle legitimieren mich zum Reden, zum Predigen, sie motivieren mich. Deshalb wohl bin ich auch immer noch so stark. Im Pfuusbus kriegen sie fünf «Stutz», aber sie müssen mir beim Predigen zuhören. Viele kommen nur wegen des Fünflibers.
Ihre Familie gibt Ihnen sicher auch viel Kraft?
Meine Frau Sonja, mein «Sünneli», ist meine grosse Liebe. Wir haben acht Kinder und 13 Enkel. Noch heute haben wir viel Kontakt untereinander. Alle haben sie im Chor gesungen, und noch heute sind alle musikalisch, tolle Musiker. Martina ist Juristin, Ilona führt eine Station, Jasmine eine Farm in Kanada und macht den besten Käse von Vancouver – wir vermissen sie hier.
Sie hatten ein paar böse Unfälle, nicht wahr?
Der Chef hat mich schon ein paar Mal recht durchgeschüttelt. Aber ich kam bis jetzt immer durch. Vielleicht erfahre ich dadurch eine gewisse Läuterung. Oder ich muss meinen unbändigen Ehrgeiz zügeln. Schon als Bauernknecht wollte ich immer die grössten Heubüsche machen und im Militär immer der Schnellste sein.
Denken Sie oft an den Tod?
Auf jeden Fall habe ich keine Angst davor. Vielleicht kommt am Ende des Lebens noch der Gedanke an etwas, was ich hätte besser machen können. Ich habe einmal drei Kinder geschmuggelt und wurde fast verhaftet.
Ihre Weihnachtsbotschaft?
Augustus sagte: «Liebe, und tue, was du willst». Die Liebe muss in der Familie beginnen. Franz von Assisi ist mir ständig gegenwärtig. Wenn ich keinen Rappen in der Tasche habe, denke ich an ihn. Jesus sagte: «Was du dem Geringsten meiner Brüder getan, das hast du mir getan.»