Vor 52 Jahren zum König gekrönt

Beim Saisonhöhepunkt in Appenzell wird er in der ersten Reihe sitzen. Denn er ist der älteste noch ­lebende Schwingerkönig. Die ­Audienz beim 77-Jährigen ist auch eine Zeitreise durch die Geschichte des Schwingsports.

Von Thomas Wälti

David Roschi ist ein belesener Mensch. In der Stube seines schmucken Chalets in Oey-Diemtigen BE zieht er ein Buch aus dem Regal. Es handelt von Reinhold Messner (79). Der Südtiroler stand als erster Bergsteiger auf allen Achttausendern. «Er ist eine faszinierende Persönlichkeit. Seine Expeditionsberichte finde ich ungemein spannend», schwärmt der älteste noch lebende Schwingerkönig.

Schon als Bergbauernbub hat David Roschi gern gelesen. Das erste Buch, das er sich aus der Schulbibliothek auslieh, hiess: «Beresina». Es erzählt die Geschichte von Napoleons Feldzug 1812 nach Russland, wo auch vier Schweizer Regimente kämpften. «Auch Deutschlands Geschichte interessiert mich sehr, im Besonderen das Wirken von Staatsmann Otto von ­Bismarck», sagt der Berner Oberländer.

Zurzeit aber interessiert sich David ­Roschi für das Eidgenössische Jubiläums-Schwingfest am 8. September in Appenzell AI. Neben den 120 besten Schwingern werden rund 20 000 Besucherinnen und Besucher erwartet. «Ich freue mich sehr, dass ich beim Saisonhöhepunkt als Ehrengast dabei sein darf», sagt der Schwingerkönig von 1972. Als mögliche Festsieger hat er zahlreiche Eidgenossen – so heissen die Schwinger, die sich an einem Eid­genössischen Schwing- und Älplerfest den Kranz erkämpfen – auf dem Zettel: Joel ­Wicki, Fabian Staudenmann, Samuel Giger, Pirmin Reichmuth, Werner Schlegel, Armon und Curdin Orlik sowie Matthias Aeschbacher. «Ich glaube nicht, dass es einen Überraschungssieger geben wird», so der einstige Sennenschwinger.

«Damals herrschten andere Zeiten»

52 Jahre ist es jetzt schon her, dass David Roschi in La Chaux-de-Fonds NE Schwingerkönig wurde. Wie präsent ist der Schlussgang noch in seinem Kopf? «Ich erinnere mich an den Kampf gegen Karl Bachmann, als wäre es gestern gewesen. Ich geriet ein paar Mal in Schwierigkeiten, konnte mich aber stets befreien und am Schluss meinen Gegner auf den Rücken drehen.» Der Königstitel habe sein Leben nicht gross verändert, meint er. «Damals herrschten andere Zeiten. Da konnte ein Schwingerkönig nicht durch Sponsoren- und Werbeverträge sechsstellige Summen verdienen, das Werbereglement war sehr streng. Ich bekam als Lebendpreis den Siegermuni, den ich für 4000 Franken verkaufte, und einen Kranz aus Eichenlaub. Das war’s!» Dann stützt David Roschi seine Aussage mit einer Anekdote: «Ein Freund von mir wollte mir nach meinem Königstitel einen Opel samt entsprechender Beschriftung zur Verfügung stellen. Diesen Sachpreis musste ich natürlich ausschlagen.» 

Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, untermauert David Roschi mit einem weiteren Beispiel: «Ich erhielt für meinen Sieg am Brünig-Schwinget 300 Franken. Heute beträgt der Siegerpreis 2500 Franken. Aber mir ging es damals nicht um die Summe, sondern um den Brünig-Kranz!»

David Roschi zeigt dem Gast den Kranzkasten neben der Eingangstür: 58 Festkränze, davon drei «Eidgenössische», sind hinter einer Glasscheibe aufgehängt. Der hochdekorierte, aber bescheiden gebliebene Schwinger posiert zwar für ein Bild, er will um seine 16 Jahre dauernde Erfolgskarriere aber kein Aufheben machen. Er steht nicht gern im Rampenlicht. 

Zu Ehren der drei einheimischen Schwingerkönige Karl Dubach (1889), David Roschi (1972) und Kilian Wenger (2010) hat der Naturpark Diemtigtal in Zusammen­arbeit mit seiner örtlichen Bevölke­rung und Fachleuten aus verschiedenen Schwingerkreisen vor elf Jahren ­einen entsprechenden Themenweg auf dem Springenboden eingerichtet, wo der Gast Spannendes zum Schwingsport und dessen Bedeutung erfährt. Das Diemtigtal wird auch respektvoll «Tal der Könige» ­genannt.

«Sie wollten mir etwas abkaufen»

Nach der Karriere kaufte David Roschi in Oey-Diemtigen ein Eisen- und Haushaltswarengeschäft, das er mit seiner Ehefrau Annegreth (69) fast 30 Jahre geführt hat. «In dieser Zeit profitierte ich natürlich von meinem Königstitel. Oft kamen Leute nur wegen mir in den Laden. Sie wollten mir einfach etwas abkaufen», erzählt David Roschi. Um mit einem Schmunzeln an­zufügen: «Manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie den gekauften Gegenstand gar nicht brauchten.» David und Annegreth Roschi sind seit 47 Jahren verheiratet. Sie haben drei Kinder – Lea, Dunja und Ruedi sowie elf Grosskinder. Ruedi Roschi (1 Kranzfestsieg, 55 Kränze) ist selbst ein erfolgreicher Schwinger.

Vor drei Monaten erlitt David Roschi einen Herzinfarkt. «Gesundheit ist das wichtigste Gut», antwortet er auf die Frage nach seinem Lebenstraum. «Ich bin froh, dass es mir wieder gutgeht.» Dann sagt er: «Ich möchte wieder mal Ferien in Südtirol machen.» 

Mitten in den Dolomiten. Dort, wo ­Reinhold Messner das Bergsteigen er­lernte.