Vico Torriani (†)
Seine traurigen Jahre als Verdingbub
Er nahm das dunkle Geheimnis mit ins Grab. Der weltbekannte Entertainer betörte einst mit seiner Stimme die Menschen, machte sie glücklich. Dabei waren seine Jugendjahre eine einzige Tragödie. Er wurde als Verdingbub in den Aargau geschickt und erlebte Schlimmes.
Es ist ein typisches Klassenfoto aus dem 1930er-Jahren. Die Mädchen tragen Schürzen, die Buben sitzen diszipliniert in den Schulbänken. Der Bub in der ersten Reihe im gestreiften Hemd mit den verschränkten Armen blickt neckisch lächelnd in die Kamera. Dessen Schwester im gestreiften Hemd mit dem Stift trägt keine Schürze. Die beiden heissen Torriani, Vico und Sonia. Das Foto der 1. Klasse der Bezirksschule Sins AG unter Lehrer Franz Rohner stammt aus dem Schuljahr 1932/33. Viktor (Vico) und Sonia Torriani waren damals Verdingkinder, untergebracht bei der Witwe von Sigfried Krummenacher auf der Liegenschaft Hohensteg in Oberrüti.
«Das Foto ist authentisch», staunt Vico-Tochter Nicole Kündig Torriani (64) ein bisschen schockiert, als die GlücksPost sie mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Vater einst Verdingkind war. «Ich glaube, auch die Zwillingsschwester meines Vaters in der vorderen Reihe links zu erkennen.» Falsch; es ist Vicos zwei Jahre jüngere Schwester Sonia. Vicos Tochter: «Nach meinen Angaben hat mein Vater die Primarschule am Plazza da Scoul in St. Moritz besucht, dann eine Bäckerlehre und eine Kochlehre absolviert und als Liftboy im Palace Hotel zusätzlich etwas verdient.» An die Verdingkind-Theorie könne sie nicht glauben. «Jedenfalls hat mir mein Vater nie etwas davon erzählt.»
Vielleicht hatte Vico Torriani gute Gründe, das unbekannte Kapitel seines jungen Lebens zu verheimlichen. Wie man nicht nur aus dem Film «Der Verdingbub» weiss, sondern auch von Tatsachenberichten ehemaliger Verdingkinder: Viele hatten es bei ihren Kosteltern nicht gut, wurden ausgenützt, geschlagen und auch sexuell missbraucht. Dass Vico Torriani dieses dunkle Geheimnis seiner Kindheit vielleicht lieber mit ins Grab nahm und nicht einmal seine Familie einweihte – wer kann es ihm verdenken. Vielleicht gibt es deshalb auch kein Buch über sein Leben. Anfragen, seine Biografie zu schreiben, blockte er immer gleich ab.
Trotzdem erzählte er einst, dass er sicher kein Wunschkind gewesen sei. Sein Vater war Stallbursche, die Mutter Zimmermädchen und bei der Geburt der Zwillinge Vico und Claire in Genf 19 Jahre jung. Dass da die finanziellen Möglichkeiten beschränkt waren, versteht sich. Also gab man die Kinder als Kostkinder, wie man die Verdingkinder damals nannte, zu Pflegefamilien, die dafür Geld erhielten.
Eine aktenkundige Station war das «Kinderheim Nazareth» in Kronbühl SG, wo Vico Torriani vom 17. Mai bis 9. September 1929 zusammen mit seiner Zwillingsschwester Claire einquartiert war. Im September verliess Claire Kronbühl und zog zum Vater nach St. Moritz. Anschliessend wurden die Geschwister Vico und Sonia nach Oberrüti AG verdingt, was in der Gemeindeverwaltung registriert ist. In den Büchern verzeichnet sind sogar die Schulleistungen des jungen Vico in der 3. Primarklasse: «Fleiss: 1, Leistungen: 2, Betragen: 1–2», heisst es. Der gute Schüler Vico schaffte es bis in die Oberstufe der Bezirksschule Sins. Dort trat er laut der Gemeinde-Akten am 23. März 1933 aus und zog zu seinem Vater nach St. Moritz. «An die Zeit in Sins kann ich mich überhaupt nicht mehr erinnern», behauptete er später. «Ich weiss nur noch, dass der Schulweg nach Oberrüti immer sehr lang war und ich es nicht wagte, ein Auto anzuhalten. Mein verrostetes Fahrrad war meistens kaputt, und ich musste zu Fuss gehen.»
Ein Zeitzeuge erinnert sich gut an Vico Torriani und dessen Jahre in Oberrüti. «Er kam 1929 hierher. Sein Vater war damals in Luzern Stadtrosspfleger, Mutter Claire Werbefrau für Steinfels Seifen. Die Witwe Krummenacher war eine Marktfrau, die in Luzern ihr selbst gezogenes Gemüse verkaufte.» Da sie den ganzen Tag weg war, blieben die Kinder alleine in Oberrüti zurück . «Weil es zu Hause nichts gab, mussten sie für ihr Essen in der Nachbarschaft betteln gehen.» Sie seien von der Witwe nicht geschlagen worden. «Aber von einigen Mitschülern und den Dorfrüpeln wurden sie geplagt und ausgegrenzt.»
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Verdingkinder gab es von circa 1850 bis in die 1970er-Jahre. Nach Schätzungen wurden weit über 100 000 Kinder armer Eltern an Bauernfamilien gegen Kostgeld abgeschoben. Reto Brand, Leiter des «Fachbereiches fürsorgerische Zwangsmassnahmen vor 1981» vom Bundesamt für Justiz: «Dass jemand die teils grässlichen Umstände als Verdingkind verdrängt, ist nicht ungewöhnlich. Die körperlichen und seelischen Verletzungen waren teils derart gravierend, dass die Betroffenen ihr Leben lang traumatisiert waren und ihre Geschichten und Erlebnisse wie einen Fremdkörper in ihrem Inneren einkapselten.»