Corinne Rey-Bellet, Verena Rey-Bellet
Verena und Adrien Rey-Bellet: «Wir möchten für Kevin Grosseltern sein»
Eine schreckliche Familien-Tragödie hat ihnen nicht nur ihre zwei Kinder genommen, sondern auch ihr verbliebenes Glück: Enkel Kevin. Ihn dürfen die Grosseltern nur einmal pro Monat für drei Stunden sehen.
Es ist einer dieser traumhaften Vor-Herbsttage in den Walliser Bergen. Hoch oben unter den Dents du Midi im Val d’Illiez liegt die Skistation Les Crosets. Eine Strasse führt zum grossen Haus der Familie Rey-Bellet. Verena (65), die Mutter des ermordeten Skistars Corinne Rey-Bellet, erwartet die GlücksPost bereits. Sie führt uns in das grosszügige Wohnzimmer mit der imposanten Küche, bietet Fendant an. Wir setzen uns an den Tisch, an dem am 30. April 2006 das Drama passierte. Verena Rey-Bellet ist körperlich wieder gesund. Nur der rechte Arm, an dem man die Spuren der Einschüsse sieht, ist nicht mehr zu 100 Prozent beweglich.
GlücksPost: Wann haben Sie Kevin zuletzt gesehen?
Verena Rey-Bellet: Einmal im Juli und einmal im August. Sein Pflegevater kam mit ihm zu uns, blieb aber nicht sehr lange. Auf jeden Fall nicht die drei Stunden, die vertraglich abgemacht sind.
Spürte Kevin den Zeitdruck?
Ich glaube nicht. Sobald er hier ist, geht er gerne in sein Zimmer mit all seinen Spielsachen. Aber ich hatte das Gefühl, dass er sich nichts zu sagen getraute.
Sie meinen, zu sagen, dass es ihm hier bei Ihnen gut gefällt?
Na ja, kurz vor seinem sechsten Geburtstag letzten Herbst erzählte er, die Psychiaterin in Sion, zu der er seit diesem Monat zweimal pro Woche gehen muss, hätte ihm gesagt, sein Zuhause sei jetzt bei der Pflegefamilie und nicht mehr in Les Crosets bei uns. Dann meinte er mit weinerlicher Stimme: «Aber gell, Grandpapa, mein Daheim ist hier bei euch. Aber ich sage nichts mehr, sonst lassen sie mich nicht mehr zu euch gehen.»
Verena Rey-Bellet stockt. Sie kann ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Nach kurzer Pause erzählt sie vom Tag, als die Tat passierte, vom 30. April 2006. Sie war mit schwersten Verletzungen ins Spital geflogen worden.
Die Eltern haben Kevin vor der Tat nach oben ins Bett gebracht. Am Morgen danach war ausser dem Grossvater niemand mehr da. Seine Mutter war tot, sein Vater auf der Flucht, ich im Spital. Ein ganzes Jahr lang blieb Kevin danach bei uns. Er sagte immer: «Gell, Grandpapa, du gehst nicht weg,du lässt mich nicht alleine.»
Im Frühjahr 2007 schrieb die Psychologin der Vormundschaftsbehörde, zwischen dem Grossvater und Kevin sei eine enge Beziehung entstanden. Diese Beziehung müsse man schützen und fördern. Aber später, ohne dass sie uns in der Zwischenzeit gesehen hätte, kann dieselbe Frau sagen, jetzt sei der Einfluss des Grossvaters auf seinen Enkel schlecht.
Verena Rey-Bellet schüttelt verzweifelt ihren Kopf. Sie kann das alles nicht verstehen.
Wir haben gehört, Kevin sei ein lebendiges Kind, eine richtige kleine Persönlichkeit.
Ja, da muss man sich nicht wundern, auch sein Vater und seine Mutter waren ausgeprägte Persönlichkeiten. Wir haben über seinen Vater auch nie etwas Schlechtes gesagt. Ich habe immer wieder gesagt: Was immer passierte, er ist der Vater dieses Kindes. Er wie unsere Tochter hatten einen starken Charakter.
Haben Sie denn das Gefühl, man versuche jetzt, Kevins Persönlichkeit zu brechen?
Ich habe einfach das Gefühl, man versucht, ihn in eine Schablone zu pressen. Natürlich bin ich der Meinung, dass man ein Kind erziehen muss, man kann ihm nicht alles durchlassen. Aber das war uns immer klar. Wir haben ja auch zwei Kinder grossgezogen.
Mit der Pflegefamilie sind Sie verwandt?
Ja, die Pflegemutter ist die Nichte meines Mannes, eine Cousine von Corinne. Sie hat 2006 geheiratet. Kevins Pflegevater kannte ich vorher nicht.
Aus welchem Grund hiess es denn plötzlich, Kevin müsse jetzt weg von Ihnen und zu Pflegeeltern?
Es gab verschiedene Optionen, auch die von uns als Pflegeeltern. Die Nichte und ihr Mann erklärten sich dann einverstanden, Kevin zu sich zu nehmen. Weil die Nichte und ihr Mann jünger waren und eine eigene Familie gründen wollten, bekamen sie den Zuschlag. Mittlerweile haben sie ja noch zwei Kinder bekommen, vier Jahre und 18 Monate alt.
Verena Rey-Bellet weiss, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt.
Aber man lernt, damit zu leben. Mit seiner traurigen Geschichte hat Kevin einen schweren Rucksack zu tragen. Das Drama um seine Eltern wird immer Bestandteil seines Lebens bleiben. Diese Tragödie hat ihm seine Eltern genommen. Man kann dieses Drama nicht einfach in eine Kiste stecken und wegschieben.
Hat Kevin auch nach seinen Eltern gefragt?
Natürlich. Seine häufigste Frage an uns war: «Wo ist Mami?» Was will man in einem solchen Moment antworten? «Im Himmel», sagten wir.«Und warum ist sie im Himmel?» Wir sagten: «Weil Papi es so wollte.»
Verena Rey-Bellet bricht erneut in Tränen aus.
Dann sagte Kevin: «Ich will auch in den Himmel.» Was soll man einem Kind denn da noch antworten? Man muss ihm erklären, warum das nicht geht, dass wir nicht bestimmen können, wann man in den Himmel komme. Von der Psychiaterin wurde uns gesagt, wenn Kevin Fragen stelle, solle man ihm antworten und ihn nicht anlügen. Eigentlich wissen wir in der ganzen Angelegenheit noch heute nicht, was man uns vorwirft. Und warum verweigert man uns eine unabhängige Untersuchung? Wir möchten ja eigentlich nichts anderes erreichen, als Grosseltern zu sein wie andere auch. Kevin dann zu sehen, wenn er es will. Einfach regelmässig, in den Ferien, ein Tag pro Woche oder mal ein Wochenende. Er ist doch ein Teil von uns, unser Fleisch und Blut. Kevin wird im November sieben. In diesem Alter sollte er doch selber sagen können: Heute würde ich gerne zu den Grosseltern gehen. Wir haben immer Zeit für ihn. Wenigstens dürfen wir mit Kevin telefonischen Kontakt haben.
Würden Sie denn Kevin auch heute noch jederzeit zu sich nehmen, dass er bei Ihnen wohnen und hier in die Schule gehen würde?
Ja, sicher. Aber er könnte auch spontan mit dem Linienbus jederzeit zu uns kommen. Der Bus hält praktisch vor dem Wohnhaus seiner Pflegeeltern. Am Abend könnte ich ihn auch wieder auf den Bus begleiten. Aber das wird uns verwehrt mit der Begründung, wir hätten einen schlechten Einfluss auf ihn. Kevin lebte ein Jahr glücklich bei uns. Als es hiess, er müsse nun in eine Pflegefamilie, meinte er oft: «Warum kann ich nicht hier bleiben?» Eines ist klar: Wie schon unseren beiden Kindern, habe ich auch Kevin immer Grenzen gesetzt. Ohne diese Grenzen würde man jedem Kind schaden.
Wer kann jetzt alles entscheiden?
Der Vormund zusammen mit der Vormundschaftsbehörde in Abtwil SG. Nach dem Tod von Corinne sagte mir der Vormund, er wisse, was Corinne gewollt hätte: dass Kevin zu uns kommen solle. Jetzt will man davon nichts mehr wissen, und alles ist anders. Vom Vormund sind wir tief enttäuscht. Wir wissen auch nicht, warum die Vormundschaftsbehörde weiterhin in St. Gallen ist und nicht hier im Wallis.
Kevin geht jetzt in die 1. Klasse. Wie reagieren seine Mitschüler auf ihn?
Zwischendurch gibt es Bemerkungen wie: «Du hast ja nicht einmal ein Mami.» Aber Kevin ist stark. Er antwortet in der Schule und beim Sport. Dort will er der Beste sein – und er ist es auch.
Wie geht es Ihrem Mann Adrien?
Er hat sich von seiner Herzoperation erholt und ist noch für ein paar Wochen in der Rehabilitation. Nach dem Einsetzen neuer Herzkranzgefässe lag er wochenlang auf der Intensivstation. Der Streit um Kevin hat ihm arg zugesetzt.