Stan Wawrinka
Das Leben auf dem Hof gab ihm Kraft
Seit ein paar Jahren steht er im Rampenlicht. Doch gross geworden ist die Nummer 3 der Tennis-Weltrangliste auf einem abgelegenen Bauernhof im Kanton Waadt. Der Vater erzählt vom Aufwachsen seines berühmten Sohns.
Wir besuchen die Eltern Wawrinka auf ihrem versteckt liegenden Anwesen, auf dem auch Stan (31) aufgewachsen ist. Wolfram (57) und seine Frau Isabelle sind eben nach Hause ins Waadtland zurückgekehrt. An den Tagen zuvor waren sie in Basel, um ihren Sohn von der Tribüne aus bei den Swiss Indoors zu unterstützen. Schon am Dorfeingang grüsst Stan die Durchfahrenden von einem grossen Plakat, das zeigt, wie stolz St. Barthélemy auf seinen Tennisstar ist.
An diesem wunderschönen Herbsttag ist ein Besuch auf dem gepflegten Wawrinka-Hof mit all den Tieren in ihren offenen Gehegen wunderbar. Die Bäume tragen ihr farbiges Herbstlaub zur Schau. Am Horizont erstreckt sich die Weide der Rehe, die Stan so gerne hat, bis zum angrenzenden Wald. Im sonnigen Innenhof warten Schaukel und Spielzeug auf die Kinder der Besucher.
Stans Mutter hilft heute ausnahmsweise nicht hinter dem Tresen der zum Gehöft gehörenden Bäckerei oder im zugehörigen Restaurant aus. Sie kommt nur kurz, holt sich etwas frisch Gebackenes und geht wieder. Doch den Vater des Tennis-Cracks erwarten seine Mitarbeiter und Schützlinge nach der Mittagspause. Das Gut ist Teil eines Heims für Suchtkranke und geistig beeinträchtigte Menschen; 24 von ihnen leben bei Wawrinkas. «Wir selbst wohnen aber heute nicht mehr hier», sagt Wolfram, der den Betrieb 1983 von seinem Vater übernommen hat und wie seine Kinder hier aufgewachsen ist. Stans Eltern wohnen jetzt zusammen mit seiner jüngsten Schwester Naëlla (25) etwa zehn Minuten entfernt am Rand des Nachbarorts. «Der Betrieb ist in den letzten Jahren um einiges erweitert worden, wir haben inzwischen zehn Mitarbeiter. Das erlaubt es uns, Ferien zu machen oder uns ein paar Tage auszuklinken, um Stan bei einem Turnier zu besuchen. Es ist ganz anders, ihn live zu sehen. Da durchleben wir alle Stadien der Emotionen. Es ist unglaublich, er hat so grosse Schritte gemacht in den letzten Jahren. Magnifique!»
Wenn Stan einmal in der Schweiz ist und Zeit hat, ist er neben seinem elterlichen Hof am liebsten in Lausanne. Ausser der Idylle bietet St. Barthélemy für einen abenteuerlustigen Menschen nicht eben viel. Der letzte Bus fährt abends um 19.45 Uhr. Eine Stunde braucht man ohne Auto bis Lausanne. «Wir sind schon sehr abgelegen hier, die Kinder waren immer mit ihren Velos unterwegs», sagt Wolfram. «Für uns ist es stets überraschend, wenn wir ‹hinaus› gehen und sehen, welch ein Star unser Stan ist. Hier merken wir nichts davon, bei uns ist Stan einfach Stan.»
Noch hätten sich nicht viele Neugierige auf ihre Ferme du Château verirrt, sagt Wolfram lachend. «Als er 2014 die Australian Open gewann, waren Medien aus Australien und New York hier. Aber nun ist es wieder ruhig geworden.» Gerade eben mussten Wawrinkas jedoch ihre Festnetznummer aus dem öffentlichen Telefonbuch entfernen lassen. «Es klingelte unablässig. Und wir haben ja sowieso unsere Handys.»
Dass Stan es in Basel nicht über den Viertelfinal hinaus geschafft hat und letzte Woche beim Masters-1000-Turnier in Paris-Bercy in der zweiten Runde rausflog, ist für die Eltern nicht schlimm. «Wir hatten nie die Erwartung an ihn, dass er ein Top-Profi werden muss. Wir wollen einfach, dass er glücklich ist. Wenn er auch noch erfolgreich ist – umso schöner.»
Wawrinkas leben und führen ihren Hof nach den Prinzipien Rudolf Steiners. Dazu gehörte auch, dass Stan und seine Geschwister die Rudolf-Steiner-Schule im eine Stunde entfernten
Crissier VD besuchten. Die Steiner’sche Lehre hält nichts von sportlicher Konkurrenz. Sport gab es in der Schule nicht. Wawrinkas hätten ihre Kinder niemals auf Sieg gedrillt. «Eine Profi-Ausbildung konnten wir uns sowieso nicht leisten», erklärt Wolfram. Dennoch muss der Siegeswille in ihrem Zweitältesten vorhanden gewesen sein. Stan brach die Schule mit 14 ab. Er und sein drei Jahre älterer Bruder Jonathan gingen mit ihren Freunden und Tenniskollegen Dimitri und Gregory Zavialoff nach Barcelona. Stan wollte sein Spiel unter der Leitung Dimitris (40) perfektionieren. «Wir erlaubten das, weil wir die Zavialoffs gut kennen. Wenn das nicht geklappt hätte in Spanien, hätte Stan etwas anderes gemacht. Aber dadurch wurde er früh selbstständig, denn die vier mussten in Barcelona ihren Haushalt selber führen, waschen, kochen, putzen. Sie haben es durchgezogen», meint der Vater.
Erstaunlich eigentlich, denn Stan sei ein sehr scheuer Junge gewesen, sagt Wolfram. «Das hat man bei den ersten TV-Interviews noch gesehen. Heute ist er viel offener, stärker. Er hat sich schon als Junge immer in überraschend grossen Schüben entwickelt: Plötzlich konnte er gehen, plötzlich konnte er Velo fahren», erzählt der Papa. Was der Sohnemann allerdings schon als Dreikäsehoch liebte, war das Risiko. «Er kannte keine Gefahr. Mit dem Velo ist er mehr als einmal krachend irgendwo reingefahren.»
Da weder in der Schule noch von den Eltern Druck auf Stan ausgeübt wurde – woher hat er diesen unglaublichen Kampfgeist? Sein Vater ist überzeugt: «Das hat ihn stark gemacht, dass er hier auf dem Hof aufgewachsen ist und sah, wie andere Leute kämpfen müssen in ihrem Leben.»