Sie öffnet ­immer wieder neue Türen

Die Mundartsängerin schreibt seit 30 Jahren die Schweizer Musikgeschichte mit. Ihr Jubiläum feiert die Walliserin mit ihren Fans, einem Live-Album und einer Tour. Beim Schloss Hallwyl in ihrer Wahlheimat blickt sie auf ihre eigene Historie zurück.

Von Aurelia Robles

Sina – ein Vorname mit nur vier Buchstaben und alle wissen, um welche Künstlerin es geht. Die Mundart­sängerin aus dem Wallis gehört in die Schweizer Musiklandschaft wie das Mat­ter­horn ins Panorama von Zermatt VS. ­Dabei hat die 58-Jährige schon vor 40 Jahren ihre bergige Heimat verlassen. Nach ein paar Jahren in Genf und Zürich hat sie hier am Hallwilersee, der Heimat ihres Mannes Markus Kühne (71), neue Wurzeln geschlagen und ist im Flachland ebenfalls heimisch geworden. «Doch man wünscht mir nach einem Konzert noch heute eine gute Heimfahrt und fragt mich, wie und über welche Strecke ich denn morgens um ein Uhr noch ins Wallis ­komme», erzählt sie lachend. 

Mit 18 Jahren ging Sina damals weg. «Musikalisch lief daheim nichts», erinnert sie sich. Dabei wusste das eher unsichere Mädchen, geboren als Ursula Bellwald, schon sehr früh, dass sie Sängerin werden möchte. «Man hat mich ausgelacht, den Spruch gesagt: Erwachsen und Sängerin werden, beides geht nicht», erzählt sie. «Doch in meinem Fall eben schon.» Dieses Jahr feiert Sina ihr 30-Jähriges mit dem Album «Bescht of 30 Jahr – Live aus der Mühle Hunziken», mit dem sie aktuell auf Tour ist. Die Lieder dafür bestimmten ihre Fans. «Dabei ‹schnurrt› mir sonst bei der Auswahl des Repertoires niemand rein, das war immer mein Hoheits­gebiet», lacht sie. «Aber es ist ein richtig ­gutes Set geworden.» So haben sich die Fans nicht nur für ihre Hits entschieden, sondern die Schein­werfer auch auf Songs ­gerichtet, «die bisher nicht viel Aufmerk­samkeit erhalten haben». 

Für Sina persönlich ist «Hinnär diär» ein Lied, auf das sie immer wieder schöne ­Reaktionen erhielt. «Es ist ein Kraftlied mit einem Versprechen: Wenn du mich brauchst, stehe ich hinter dir. So unendlich wichtig, wenn man eine solche Person hat in seinem Leben.» Oder «Emma», ein Lied, das sie ihrer Grossmutter gewidmet hat. «Es steht für mich für die Insel, die Emma für mich war.» Nicht zuletzt wäre da noch «Wänn nit jetz wänn dä». Ein Stück, das den Weg bis in die holländische Hitparade fand und 2008 an der Fussball-EM eine Art Hymne für die Niederländer wurde. 

In ihren Liedern erfährt das Publikum immer sehr viel von ihr. «Einige Themen aber bleiben privat. Gewissen Schmerz wollte ich nicht öffentlich thematisieren, weil ich mich nicht immer wieder damit konfrontieren wollte.» Zum Beispiel Erfah­rungen wie ihre persön­liche Geschichte in der Kindheit, oder auch Ereig­nisse im Erwachsenenleben. «Ich möchte diesen Stempel nicht, will in meiner Kraft bleiben.»

Liebe «ännät am Berg»

Das Wallis sei ihr auch ein bisschen zu eng gewesen, gesteht die Liedermacherin, den Blick auf das kleine Bächlein beim Schloss Hallwyl gerichtet. Als junge Frau wollte sie sehen, was «ännät am Berg» ist. Sinas ­erlebte Antwort auf ihre damalige Neugier hört sich heute wie eine erfüllte Wunschliste an. «Ganz viel Erkenntnis, eine grosse Liebe und eine Stabilität für mich als Mensch. Mein persönliches Matterhorn in Strahlkraft und Stärke, das ist mein Mann.» Mit Musiker Markus Kühne ist sie seit 2004 verheiratet. «Er gibt mir im Privat­leben die Ruhe und Leichtigkeit, sodass ich tanzen kann.» 

Ihr Mann hat sie in all den Jahren nicht nur privat, sondern auch beruflich durch alle Wellen begleitet. Im grossen Teich des Musikbusiness versuchte Sina flexibel mitzuschwimmen und fand im kleinen See der Mundartmusik ihr «eigenes Bächli», wie sie sagt. «Als Künstlerin war es mir wichtig, bei mir zu bleiben, mir treu zu werden über die Jahre. Und dabei trotzdem Gelegenheiten zu packen und Neues auszuprobieren.» 

Sina erzählt eine Anekdote von 1994. Auf dem Plakat für ihre zwei Konzerte in Basel – damals zu einer Gage von 40 Franken pro Auftritt – stand «Zina», statt Sina. «Nach drei Liedern kam ein Mann mit Goldzähnen an die Bühne, ­zupfte an meiner Hose und fragte: ‹Wann kommt denn nun dieser Teil mit dem Bauchtanz?›». Zuvor hatte die gelernte Bankkauffrau schon zehn Jahre lang versucht, sich als Künstlerin zu etablieren. «Die ­erste Sina-CD war auch mein letzter Versuch, Fuss zu fassen», gesteht sie. Wenn es mit Mundart und ihren eigenen Geschichten nicht funktioniert, «hätte ich mir einen andern Platz im Leben suchen müssen. Aber dann ging es los!» 

Erfolg und neue Gewässer

15 Alben – alle Studio-Produktionen landeten in den Top10 der Schweizer Charts – sind seither erschienen, davon erreichten neun Gold- und zwei Platinauszeichnung. Am Swiss Music Award 2019 wird Sina als erste Frau der Schweizer Musikszene mit dem Outstanding Achievement Award geehrt und 2023 als Beste Solokünstlerin ausgezeichnet. Beim Weg zum Erfolg hat sie stets das gleiche Team begleitet. Künstlerisch hat die Walliserin oft ihre Komfortzone verlassen. «Das ist mir ganz wichtig, weil ich immer viel lerne, wenn ich mich auf andere Menschen einlasse – jede Begegnung bringt mich auch musikalisch weiter und macht mich zu einer vollständigeren Künstlerin.» So hat Sina Theatermusik für Autorin Sibylle Berg (62) geschrieben, einen Song, den sie mit dem weltbekannten Chor «Le mystère des voix bulgares» aufnahm oder tourte zuletzt mit den Kabarettisten Bänz Friedli (60) und Ralf Schlatter (54) mit «Songs & Gschichtä». Nächstes Jahr ist eine Filmmusik ­geplant. «Das Schönste an allem ist, dass ich immer noch Lust auf verschiedene musikalische Ausdrucksformen habe», sagt Sina. «Die Freude, Leidenschaft und Dankbarkeit nimmt zu. An dem Ort, wo ich heute stehe, sehe ich für mich noch mehr Wege.» 

Nur etwas würde sie rückblickend in ­ihrer Geschichte gerne anders schreiben. «Ich erzählte jahrzehntelang mit sehr grossem Stolz, dass ich von den über 1000 Konzerten nur zwei abgesagt habe. Welch unsinnige Einbildung.» Denn zu oft sei sie über die körperlichen Grenzen hinausgegangen, wollte ihren Job machen und niemanden enttäuschen, stand zum Beispiel mit Lungenentzündung auf der Bühne. «Ich habe mir ganz klar zu wenig geschaut, wollte fürs grosse Ganze funktionieren. Da hat sich der Körper gerächt. Und als Sängerin kann ich ohne meine Stimme, mein Instrument, nicht funktionieren, sagt sie. Heute achte sie mehr auf ihre Grenzen.

«Darf ich ein Foto machen?», fragt ein Parkranger erfreut, als er die Sängerin unweit des Schlosses Hallwyl erkennt. Ein kurzer Schwatz – und das noch immer im breiten Wallisertiitsch. «Nein, ein ‹Grüezi› bin ich nicht geworden, ich bin und bleibe Walliserin, ob in der Sprache oder als Mensch», sagt sie. «Die 18 Jahre im Wallis machen einen Grossteil meiner Identität aus und wie ich das Leben sehe. Das will ich mir bewahren.» Und genau das macht wohl eben Sina und ihren Erfolg aus.