Donghua Li
«Janis’ Zimmer ist ein wertvoller Ort der Erinnerung»
Wieder leben: Knapp drei Jahre nach dem Tod seines Sohnes möchte der Olympia-Sieger nicht mehr in Traurigkeit verharren. Er akzeptiert, dass seine quälende Frage nach dem Warum nie beantwortet wird – und hütet die gemeinsamen Andenken wie einen Schatz.
Es ist so schade», sagt Donghua Li immer wieder während des Gesprächs mit der Glücks-Post. Wir besuchen den 54-Jährigen in seiner Wohnung in Adligenswil LU – fast drei Jahre nach dem Tod seines Sohnes Janis. Der damals Siebenjährige überlebte die Gewebeentnahme zur Untersuchung des Tumors in seinem Bauch nicht. Er verstarb am 20. August 2019.
Nun ist der 18. Mai 2022 – der Tag, an dem Janis seinen zehnten Geburtstag gefeiert hätte, wenn er noch da wäre. «Schade.» Das Wort wird dem Drama nicht gerecht. Benutzt es Donghua, weil er kein besseres findet? Oder will der Kunstturn-Olympia-Sieger von 1996 damit auch für sich selber ausdrücken, dass er nicht mehr «in einem schwarzen Loch» ist, wie er selbst sagt? Die Frage bleibt unausgesprochen. Ganz im Gegensatz zur der Frage, die den trauernden Vaters anfangs quälte, regelrecht verfolgte: «Warum? Warum musste es Janis sein?»
Mit der Hilfe eines Anwalts versuchte der gebürtige Chinese rund ein Jahr lang herauszufinden, woran sein Sohn genau gestorben ist. Die Biopsie war ein Routineeingriff. Dennoch schloss der Junge kurz danach für immer die Augen. Das konnte nicht sein – durfte nicht sein. Irgendwo war ein Fehler passiert. Das war es, was Donghua um- und antrieb. Eine Antwort bekam er nie. Heute kann er das akzeptieren: «Es ist hart, aber ich frage nicht mehr: ‹Warum?›. Das bringt ihn nicht zurück.» Auch Janis’ Grossmutter, die jedes Jahr für ein paar Monate aus China in die Schweiz kam, hat aufgehört, nach dem Grund zu suchen. «Wir können inzwischen über Janis sprechen und uns an den gemeinsamen Erinnerungen erfreuen. Wir stellen uns oft vor, wie er heute aussehen würde.»
Schöne Erinnerungen gibt es viele. Donghua unterrichtet an einer internationalen Schule in Altdorf UR, arbeitet daneben als Sportpromoter und Motivator. Er gibt Seminare, bestreitet Turnshows. In Janis’ letztem Lebensjahr begann Donghua, seinen Sohn im Kunstturnen zu trainieren. «Er trat mit mir zusammen an Shows auf», sagt er stolz. Ebenfalls hätten sie begonnen, gemeinsam Golf zu spielen.
Voller Andenken ist Janis’ Kinderzimmer. Es ist immer noch genau so, wie er es verlassen hat. Mit dem angefangenen Puzzle auf dem Tisch und dem Schrank mit seinen Kleidern. Sogar der Keller sei noch voller Spielsachen seines Sohnes. «Kurz, bevor er ins Spital musste, begann er plötzlich, seine Sachen in Tüten zu verpacken und versorgte sie», vergegenwärtigt sich Donghua. Er muss immer wieder leer schlucken, streicht die bereits glatte Decke auf Janis’ Bett noch etwas glatter. «Am Tag, bevor wir zum Arzt gingen, sass er hier in seinem Zimmer, hatte den Stuhl zum Fenster gedreht und schaute still hinaus.» Das habe Janis vorher nie getan. «Sonst hat er stets irgendetwas gemacht.» Ob der Junge eine Vorahnung hatte? «Vielleicht.»
Donghua muss jeden Morgen an Janis’ Zimmer vorbei, nachdem er aufgestanden ist. Am Türrahmen sieht man die Striche und Angaben, mit denen Vater und Sohn Janis’ Wachstumsschritte festgehalten haben. Die letzte Messung ist vom 11. 5. 2019: Janis war damals 1,21 Meter gross und 20,7 Kilogramm schwer. «Anfangs konnte ich nicht an dem Zimmer vorbeigehen, ohne traurig zu werden», gesteht Donghua. «Doch jetzt hat sich eine Dankbarkeit entwickelt. Janis’ Zimmer ist ein wertvoller Ort der Erinnerung für mich.» Ein weiterer solcher Ort ist der McDonalds, in dem Donghua mit Janis dessen letzte Mahlzeit eingenommen hat. Auf dem Weg ins Spital wollte der Bub unbedingt noch ein «Happy Meal» in der Burgerkette essen. «Ich gehe ab und zu in dieses Restaurant und setze mich immer an den gleichen Tisch – auch wenn ich warten muss, bis er frei wird.» Die Kerze, die Janis im Kindergarten selbst gezogen hat, und die auch an der Abdankungsfeier auf dem Altar stand, hütet Donghua wie einen Schatz. Er zündet sie zu Janis’ Geburtstag und Todestag an – nur kurz, damit sie noch lange hält. Seine Mutter dränge ihn dazu, jetzt langsam Janis’ Sachen wegzuräumen. «Aber ich bin noch nicht so weit.»
Er ist jedoch bereit, ins Leben zurückzufinden: «Ich habe wieder gute Zeiten. Es bringt nichts, in Traurigkeit zu verharren. Das blockiert alles, man kann sich nicht weiterentwickeln.» Er versuche, negative in positive Emotionen umzuwandeln: «Ich lebe bewusster und nehme jeden Tag als Geschenk.» In den vergangenen Jahren hat Donghua viel Golf gespielt. Das half ihm auch bei der Verarbeitung der Trauer. Er hat sich ein sportliches Ziel gesetzt: Er will die Schweiz diesen November an der Pitch- and Putt-Teamweltmeisterschaft in Chile vertreten.
Und Donghua möchte seine Lebensgeschichte veröffentlichen. «Gerade von meiner Kindheit in China wissen hier viele nichts und können sich das kaum vorstellen.» Als Siebenjähriger musste er sein Daheim verlassen, seine Eltern brachten ihn in ein Sport–Internat mit dem klaren Ziel, Profisportler zu werden – ebenso Donghuas Bruder. Damals galt im Land der Mitte noch nicht die Einkind-Politik. Es war allerdings gang und gäbe, dass bei -Familien mit mehreren Kindern eines schon früh zum «Landdienst» weit weggeschickt werden musste. «Meine Eltern hofften, wenn sie uns ins Sport-Internat geben, seien wir näher bei ihnen.»
Gerne möchte er seine Autobiographie auch verfilmt haben. Ihm schwebt eine Mischung vor aus gespielten Szenen von seiner Kindheit und Jugend sowie Dokumentar-Material aus der Zeit, als er in der Schweiz berühmt geworden war. Viel Zeit und Energie hat er in die Vorbereitung dieses Projekts gesteckt, zusammen mit zwei jungen Filmemachern. Jetzt hofft er, auch eine Produktionsfirma dafür zu finden. Denn genug zu erzählen hat dieser Mann allemal.