Adolf Ogi
«Ich möchte mit allen im Reinen sein»
Er ist 80 geworden – und alle wollen den Alt-Bundesrat feiern! Unzählige Anlässe stehen an. Den Ehrentag verbrachte er aber ganz unspektakulär im kleinen Kreis an seinem Kraftort im Gasterntal. Sein Wunsch: Ungeklärtes aus der Welt schaffen.
Der Alt-Bundesrat steuert auf eine Leinwand zu. «Hie muesch drücke, dann kannst du meine Neujahrsansprache sehen.» Die legendäre Szene von Ende 1999 taucht auf: Ogi vor dem Nordportal des Lötschbergtunnels, inklusive Tännchen. «Das ist Kult», betont er. «Es war die erste gerufene Rede!» Besonders angetan hat es ihm ein anderer: Man sieht Ogis Vater eine steile Bergwand hinaufklettern. Hinter ihm folgen, am Seil festgemacht, der sechsjährige Döfi (so nennt ihn sein engeres Umfeld) und ein gleichaltriger belgischer Bub. Lediglich Nägel in den Schuhsohlen schützen vor dem Abrutschen – und das Geschick des Bergführers, Ogi senior. «Meine Mutter hatte Angst vor den Klettertouren, die mein Vater mit uns machte», erinnert sich Ogi. Doch für ihn seien diese Ausflüge prägend gewesen: «Wenn du diese Liebe, Aufmerksamkeit und Sicherheit am Berg geschenkt bekommst vom Papa, das bleibt. Es gab mir Halt, auch viel später in schwierigen Zeiten. Den Halt darf man nicht verlieren, ob am Berg oder im Leben.» Noch heute rührt es ihn, dieses Zeitdokument zu sehen. Auf dem Weg durchs Museum pickt Ogi einzelne Dinge heraus: «Hie isch mi Grind», meint er und stellt sich für ein Foto neben ein gemaltes Porträt – nicht ohne vorher noch schnell mit Taschenspiegel und Kamm die Frisur zu prüfen. Er weiss von jedem Exponat, wann es wie und wo entstanden ist oder wie es zu ihm kam. Vieles geht auf seine Zeit im Bundesrat und als UN-Sonderberater für Sport zurück. Besonders stolz ist der Jubilar auf die Urkunden, die seine Ehrendoktortitel aus aller Welt beglaubigen. Er, der so oft belächelt wurde, weil er als Nicht-Akademiker in der Landesregierung sass. «Ich litt sehr, weil es hiess, ich sei intellektuell nicht fähig für den Bundesrat», gesteht er. «Dafür hatte ich etwas, das die anderen nicht hatten: Ich machte eine andere Art Politik, eine, die beim Volk ankam. Es ist nun 22 Jahre her, dass ich Bundesrat war, und die Menschen reden immer noch von mir! Das gibt mir eine innere Genugtuung.» Rund um sein Wiegenfest erhält der Kandersteger eine Auszeichnung nach der anderen für sein Lebenswerk. Einen der Preise widmete er seinem verehrten Vater und seiner geschätzten Mutter. Einen anderen seiner geliebten Frau Katrin. «Sie ist es, die mir jeden Tag Kraft und Freude schenkt», sagt er liebevoll. Das Ehepaar Ogi feierte im Mai goldene Hochzeit. «Katrin schaut gut zu mir, das ist wichtig. Wir sind 50 Jahre verheiratet!» Zur Feier seien sie gut essen gegangen mit Tochter Caroline und deren Ehemann Sylvain. Den Sommer will das Paar in Kandersteg geniessen. «Von hier aus gehen wir oft zu unserer lieben Caroline in ihr Restaurant Casy, das sie zusammen mit Sylvain in Crans-Montana führt. Wir haben eine sehr enge Beziehung, ich liebe sie über alles», bekundet der Vater zärtlich. «Caroline ist ein Schatz, wir würden alles für sie tun.» Geschickt hat Ogi das Thema gewechselt. Über seine Frau und ihre Beziehung hält er sich seit je bedeckt. Eine kleine Anekdote gibt er dann doch preis: «Jeden Tag, wenn ich morgens aus dem Haus ging, sagte Katrin, ich solle jemandem eine Freude machen. Hatte es sonst keine Gelegenheit gegeben, bedankte ich mich abends beim Reinigungspersonal.» Ein schöner Auftrag sei das, den ihm seine Frau mit auf den Weg gegeben habe. Er versuche, sich auch heute noch daran zu halten. Wir sind inzwischen zu einem Café in der Nähe des Museums spaziert. Während seiner Erzählung hält Ogi mehr als einmal inne: «Ist es nicht schön hier in Kandersteg!», ruft er aus, als ob er sein Heimatdorf zum ersten Mal sehen würde. «Das ist mein Leben!» Freundlich grüsst er jeden, der an unserem Tisch vorbeigeht. Seinen 80.Geburtstag am 18.Juli feierte der Naturliebhaber im engsten Kreis im Gasterntal. Der wilde Flecken ob Kandersteg ist sein Kraftort. Immer wieder besucht und durchkämmt er das Tal mit seiner intakten Auenlandschaft. Hier fühlt er sich seinem verstorbenen Sohn besonders nahe, kann abschalten oder Probleme wälzen. In der Abgeschiedenheit findet er Antworten auf drängende Fragen.
Ein grosses Fest gibt es am 2.Dezember im Kursaal Interlaken. Organisiert wird es von Caroline und der Stiftung «Freude herrscht», die Ogi im Andenken an Mathias gegründet hat. Der Anlass soll eine Kombination aus Geburtstagsfeier und Stiftungsgala werden. An diesem Abend wird Caroline offiziell das Amt als Stiftungsratspräsidentin von ihrem Vater übernehmen. «Das muss in der Familie bleiben, die Stiftung ist schliesslich für meinen Sohn, Carolines Bruder.» Auftreten wird auch Toni Vescoli (80), der auf den Tag genau gleich alt ist wie Ogi. Kurt Aeschbacher (73) moderiert. «Ich darf das eigentlich alles gar nicht wissen. Es soll eine Überraschung werden», verrät das Geburtstagskind augenzwinkernd. Mit der Abgabe des «Freude herrscht»-Amtes fällt für den umtriebigen Ex-Politiker ein grosses Einsatzgebiet weg. Zudem hat er sich aus der Stiftung Swisscor zurückgezogen, die während 17 Jahren rund 2000 Kindern aus Krisen- oder Konfliktregionen in Osteuropa ein alljährliches, medizinisch betreutes Sommerferienlager in der Schweiz ermöglicht hat. Unglücklicherweise fand sich niemand, der gewillt war, die Aufgabe zu übernehmen. Somit ist Swisscor nun leider Geschichte. Zusätzliche Betätigungsfelder sucht Adolf Ogi nicht: «Ich nehme konsequent nichts Neues an. Die Nachfrage ist riesig, aber ich muss praktisch alles absagen.» Lieber geniesst er die Zeit mit seiner Familie und für sich. 35 Mal sei er diesen Winter auf den Skis gestanden, sagt Ogi, der mit seiner Frau im Winter und im Sommer jeweils rund zwei Monate in Kandersteg verbringt. Die restliche Zeit wohnen sie in Fraubrunnen BE, wo Katrin herkommt. Langweilig wird es ihm sicher nicht: Nach wie vor engagiert man den beliebten Magistraten gerne für Reden oder Laudationen. «Auch Studenten wollen mich regelmässig sprechen, die Masteroder Doktorarbeiten über meine Bundesrats- und Uno-Tätigkeiten oder zur Neat schreiben.» Für die Medien analysiert er den Zustand seiner Partei, mit deren Kurs er momentan nicht einverstanden ist: «Heute kann man einfach kein Putin-Versteher sein. Es ist nicht in Ordnung, jemanden zu verteidigen, der einen solch aggressiven Krieg startet. Macht die SVP so weiter, wird sie die Quittung mit den nächsten Wahlresultaten bekommen.» Was wünscht sich Adolf Ogi denn zu seinem Geburtstag? «Gesund bleiben und niemandem zur Last fallen», ist die spontane Antwort. Nach kurzem Überlegen fügt er an: «Ich will noch alles in Ordnung bringen, mit allen und allem im Reinen sein.» Nur mit zwei Personen gebe es noch Ungeklärtes. «Ich wünsche mir, das aus der Welt zu schaffen. Ich will vergeben und es mit der Gegenseite bereinigen.» Zurück im Museum stösst Katrin Ogi zu uns. Wie ihr Mann ist sie festlich gekleidet für die Eröffnung. Für ein gemeinsames Foto ist sie sofort bereit – im Gegensatz zu Dölf, der vor der Ansprache zunehmend nervös wird. «Also, aber schnell», stimmt er schliesslich zu, verschwindet danach gleich wieder in den Tiefen der Ausstellung. Als wir uns verabschieden wollen, finden wir ihn in einer ruhigen Ecke. Er geht seinen Text durch. Dieser Mann hat so viele Reden gehalten – vor grossem Publikum, ganzen Nationen, höchsten Amts- und Würdenträgern! Nun bringt ihn eine Ansprache vor knapp 40 Leuten ins Schwitzen. Perfektionist Ogi – stets gewissenhaft und engagiert – überlässt nichts dem Zufall.