Christian Stucki
Die Geheimnisse des neuen Königs
Fast 20 Jahre lang gehörte der Berner zur Elite der Schwingszene – ohne je den Königstitel zu holen. Nun hat er sein Ziel endlich erreicht – auch dank seiner Ehefrau Cécile!
Er musste lange auf diesen Moment warten. In seinen bislang 18 Jahren als Aktiver gewann Christian Stucki (34) jeden Titel, den es für einen starken Schwinger von seinem Format zu holen gibt – bis auf den einen, den ganz grossen: der des Königs, der nur alle drei Jahre vergeben wird.
Vor dem Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest (ESAF) in Zug weiss niemand so recht, wie es um Stuckis körperliche Verfassung steht. Schon am zweiten Wochenende der aktuellen Kranzfest-Saison im Mai zieht er sich eine Verletzung am Innenband zu. Erst zwei Wochen vor dem ESAF kehrt er am Berner Kantonalen in die Arena zurück. Sein sechster Platz verspricht leider nicht allzu viel. Weil aber mit Stucki immer zu rechnen ist, wird er in den erweiterten Kreis der Favoriten auf den Königstitel aufgenommen.
Der Fokus liegt allerdings auf seinen jüngeren Kollegen Armon Orlik (24) und Joel Wicki (22). Wicki schwingt von Anfang an mit einer atemberaubenden Mischung aus Leichtigkeit und Aggressivität. Es dauert jeweils nur wenige Sekunden, bis er als Sieger aus dem Ring steigt. Das ESAF 2019 in Zug wird zur veritablen «Wicki-Show».
Auch Orlik lässt nichts anbrennen. Sein Kampf mit Stucki endet ohne Entscheidung. Für Stucki ist das bereits der zweite Gestellte. Der Titel rückt in weite Ferne. «Ich habe nicht mehr mit dem Sieg gerechnet», wird Stucki später sagen. Ein Schlussgang Orlik gegen Wicki scheint klare Sache zu sein.
Doch dann wendet sich das Blatt. Dank des weiteren Wettkampfgeschehens steht Stucki am Ende plötzlich doch im Schlussgang. Zuvor hat ihn seine Frau Cécile (38) aufgepäppelt. Sie weiss, was ihr Mann nun braucht: Zuspruch. «Ich spürte irgendwie, dass für Chrigu hier noch etwas möglich ist», sagt sie. Und Chrigu lässt sich von ihrem Optimismus anstecken.
So steht Wicki im Schlussgang vor einem Gegner, der einen Kopf grösser, 40 Kilo schwerer und unglaublich heiss darauf ist, sich seinen Traum endlich zu erfüllen. Das Publikum ist entfesselt. Die Eltern des Lastwagenfahrers aus Lyss BE schreien sich im Publikum die Seele aus dem Leib. Und Stucki fackelt nicht lang. Beim zweiten Zusammengreifen lupft er Wicki wie ein Kind hoch und bettet ihn kurzerhand ins Sägemehl. Innerhalb von 40 Sekunden ist die «Wicki-Show» Geschichte. Und Stucki endlich König. Als erste Amtshandlung umarmt er Wicki. Dann kniet er nieder und berührt mit seinem Haupt den mit Sägemehl bedeckten Boden – er hat sein Ziel erreicht. Mit seinen 34 Jahren ist er der älteste Schwinger, der je König wurde.
Dann fallen sich Christian und Cécile Stucki in die Arme. Ein inniger Kuss. Sie hat es gewusst, sie hat an ihn geglaubt. Dank ihr ist sein Traum wahr geworden! So war es schon immer bei diesen beiden: Als sie sich kennengelernt haben, war der Lastwagenfahrer aus Lyss BE nachlässig und undiszipliniert. Training und Ernährung, die ein Spitzensportler einhalten müsste, sind nicht sein Ding. Im Gegenteil: Gerne nimmt er doppelte Portionen und wird immer dicker. In dieser Verfassung reicht es für einen Sieg am Kilchberg Schwinget 2008, aber an den zweitägigen Marathons der «Eidgenössischen» geht ihm die Puste aus.
Zum Glück lernt er am ESAF 2010 in Burgdorf Cécile kennen. Ihr Ansporn bringt ihn dazu, das Rauchen aufzugeben. Er nimmt den Sport ernster und stellt seine Ernährung um. Und er wird ein leidenschaftlicher Familienvater. Einen halben Tag pro Woche widmet er seinen zwei Söhnen Xavier (6) und Elia (3). Der ältere Bub interessiert sich für den Schwingsport, begeistert sich aber auch für Fussball. Nach diesem Wochenende dürfte Fussball vorerst keine Rolle spielen.
Alle mögen Chrigu, diesem «liebe Siech» aus dem Berner Seeland, den Sieg gönnen – sogar die enttäuschten Innerschweizer, die bis zum Schluss glaubten, dass der Wicki-Trumpf im Schlussgang sticht. Doch ganz so stark grämen müssen sie sich nicht. Denn an diesem Fest gibt es zwei Sieger – und das passt sowohl zum Ablauf des Anlasses als auch zu den Teilnehmern des Schlussgangs. Weil Stucki und Wicki beide die gleiche Punktzahl haben, werden sie von ihren Kollegen zusammen auf die Schultern genommen. Dort oben halten sie sich an den Händen. Stucki ist zwar König, Wicki aber immerhin «Erstgekrönter». Beide haben es verdient, über der Menge zu trohnen.
Die ersten Interview-Fragen treffen einen etwas entrückten Stucki: «Ich habe es noch gar nicht realisiert. Ich bin gerade fassungslos, aber es ist wunderschön. Dass es jetzt geklappt hat, kann ich noch nicht glauben», sagt er mit leicht zitternder Stimme. Das liegt zum einen an der Anstrengung, die hinter ihm liegt, aber sichtbar auch daran, dass diesem emotionalen Mann die Tränen zuvorderst stehen. Es geht ihm nahe. «Jetzt kann ich es gerade noch zurückhalten, aber das kommt dann schon noch irgendwann raus.»
Nachdem er von den Ehrendamen gekrönt wurde, nimmt er den Sieger-Muni entgegen. Kolin ist 30 000 Franken wert. Stucki: «Der geht zurück an den Züchter. Er würde mir nur meinen schönen Rasen ‹vertschalpen›.» Nun, da Stucki gemerkt hat, dass er es doch noch kann, kündigt er sogleich an, seine Schwing-Karriere mindestens bis zum nächsten Eidgenössischen 2022 in Pratteln fortzuführen.
Das Fest der Feste zog einen Haufen Prominente an. Neben Ueli Mauer war auch Bundesrat Guy Parmelin dabei. Fürst Albert II. von Monaco gab sich ebenfalls die Ehre und König Tupou VI. von Tonga. Gölä und Trauffer gaben am Sonntag ihren ESAF-Hit «Maa gäge Maa» zum Besten. Die prominenten Gäste unterstreichen die Wichtigkeit des Eidgenössischen Schwing- und Älplerfests.
Doch die wahren Helden sind die starken Männer in der Arena, von denen sich einige an diesem Wochenende zu Bösen aufschwangen. Unter ihnen auch Joel Wicki: Er war der einzige Favorit in diesem Jahr, der noch keinen Eidgenössischen Kranz zu Hause hatte. Jetzt hat er nicht nur einen Kranz, sondern auch noch einen eidgenössischen Titel. Der Königstitel allerdings, der ist in Lyss.