Multiple Sklerose
Trotz MS normal leben
Die heimtückische Krankheit Multiple Sklerose gilt noch immer als unheilbar. Ein neues Medikament, das im Herbst in der Schweiz zugelassen wurde, lässt nun jüngere Betroffene mit schwerer MS-Form hoffen.
Je älter der Mensch, desto eher treffen ihn schwere Krankheiten. Diese Regel gilt für Multiple Sklerose (MS) nicht. Sie tritt am häufigsten bei Menschen auf, die in der Blüte ihres Lebens stehen – bei jungen Erwachsenen.
Längst nicht allen Betroffenen ist ihre Erkrankung anzusehen. Erste Anzeichen können sehr unspezifisch daherkommen, und besonders im Anfangsstadium bilden sich die Symptome häufig wieder zurück, oft sogar ohne Hilfe von Medikamenten. Ganz einfach zu diagnostizieren ist MS nicht, weil manche Symptome auch auf andere Erkrankungen hindeuten können. Typische Anzeichen sind Sehstörungen, Gefühlsstörungen der Haut, Koordinationsstörungen und Muskellähmungen. Für eine definitive Diagnose müssen verschiedene Untersuchungen gemacht werden – neben einer neurologischen Untersuchung auch eine Hirnwasseruntersuchung und ein MRI (Magnetresonanztomographie).
MS ist eine chronisch entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems – Gehirn und Rückenmark können von ihr betroffen sein. Zugrunde liegt ihr eine Fehlsteuerung des Immunsystems, die zu Entzündungen und Schädigungen des Myelins führt, der Schutzschicht, die die Nervenfasern umgibt. Ist diese Schutzschicht entzündet oder beschädigt, können Botschaften nicht mehr richtig zum Hirn und vom Hirn zum Rest des Körpers übertragen werden – das führt bei Betroffenen zum Beispiel zu Missempfindungen in den verschiedensten Bereichen.
In Schüben – oder schleichend
Die Erkrankung ist unberechenbar und kann sehr unterschiedlich verlaufen, von leichten bis zu sehr schweren Formen. Meistens tritt sie in Schüben auf, die sich anfänglich innerhalb von Tagen oder Wochen wieder zurückbilden. Für diese Form der MS gibt es seit gut 20 Jahren Medikamente, mit denen man die Krankheit zwar nicht heilen, aber ihren Verlauf deutlich mildern und Krankheitsschübe vermindern kann.
Etwa 10 bis 15 Prozent der MS-Betroffenen leiden jedoch an der primär progredienten Form der MS, einem schleichenden Verlauf der Erkrankung, die chronisch fortschreitet, ohne sich in Schüben bemerkbar zu machen. Gegen diese schwere Form – PPMS – war man bisher praktisch machtlos. Dass es jetzt auch für sie ein Medikament gibt, gilt als Durchbruch. «Jüngere Patienten mit einem niedrigen Behinderungsgrad werden wohl am meisten davon profitieren können», freut sich Prof. Tobias Derfuss, Leiter des Zentrums für Multiple Sklerose und Neuroimmunologie des Universitätsspitals Basel, der an den klinischen Studien beteiligt war. Weniger Hoffnung kann er Patienten machen, die schon seit vielen Jahren an PPMS leiden und eine deutliche Behinderung haben: «Das Medikament kann den Schaden leider nicht zurückdrehen, Schädigungen, die bereits entstanden sind, muss der Körper selbst reparieren.» Heilbar ist MS nach wie vor nicht.
Dafür wirkt das Medikament mit dem Wirkstoff Ocrelizumab aber auch bei der viel häufigeren schubförmigen MS. «Hier hat es eine grosse Wirkung auf die Entzündungskomponente», weiss Tobias Derfuss. «Die Patienten haben nur noch sehr selten Schübe, und man sieht auch in der Kernspintomographie fast keine neuen Läsionen mehr.» Das bedeutet, dass deutlich weniger neue Schädigungen an den Nerven entstanden.
Zwar gibt es in diesem Bereich bereits wirksame Medikamente, «aber es ist immer gut, wenn man mehrere Medikamente hat und dem Patienten das anbieten kann, was am besten für ihn passt. Alle haben unterschiedliche Behandlungsstrategien und Nebenwirkungen.» Die Nebenwirkungen sind bei MS-Medikamenten nicht ganz ohne: Weil sie das Immunsystem beeinflussen, müssen die Patienten gut überwacht werden. Um unangenehme Infusionsreaktionen wie Hautausschläge oder Schüttelfrost zu vermeiden, bekommen sie Medikamente.
Zuversicht fürs Leben
Wie segensreich die neue Therapie sein kann, schildert der Arzt am Beispiel einer 27-jährigen Patientin mit sehr aktiver MS, die trotz Tabletten viele Schübe hatte und neue Läsionen in der Kernspintomographie zeigte, also Schäden an ihren Nerven. «Es verunsichert sehr, wenn man in diesem Alter, in dem man sein Leben noch vor sich hat, eine Erkrankung bekommt, bei der man nicht weiss, wie die Zukunft aussieht, ob man in zehn Jahren vielleicht im Rollstuhl sitzt. Wenn man dann eine Therapie erhält, bei der man merkt, es kommt kein neuer Schub mehr, keine neue Läsionen – das bringt schon Zuversicht, dass man sein Leben führen kann wie andere auch.» Kommt hinzu, dass das neue Medikament nur alle sechs Monate gespritzt werden muss – zwischendurch kann die Patientin ihre Krankheit einfach vergessen.