Hilfe mit der langen Nadel
Chronische Schmerzen sind nicht einfach zu bekämpfen. Die Neuraltherapie geht sie mit Spritzen an, die auf das Nervensystem wirken – und so die Selbstheilung unterstützen.
Nein, so richtig vertrauenerweckend sehen sie nicht aus, die langen Nadeln, mit denen in der Neuraltherapie gearbeitet wird. Sie machen ganz schön Eindruck. Weil sie so lang sind, gelangt man mit ihnen aber tief in den Körper. Und weil sie extrem fein sind, hält sich der Schmerz beim Einstich auch in Grenzen. Denn ihr Zweck ist ja genau das Gegenteil von Schmerzen bereiten: Es geht darum, Schmerz zu lindern, Schmerz auszuschalten und vor weiteren Schmerzen zu schützen.
Das Vorgehen dabei ist allerding etwas anders, als wenn einfach ein Schmerzmittel gespritzt wird. Mit den langen Nadeln, die in der Neuraltherapie verwendet werden, wird zwar auch ein Lokal-anästhetikum, ein Betäubungsmittel gespritzt, dieses soll aber auf verschiedenen Ebenen wirken. Es legt vorübergehend Teile des Nervensystems lahm, das aus dem Gleichgewicht geraten ist – und gibt so dem Körper die Möglichkeit, sich selbst zu regulieren.
Regulieren zum Kurieren
Das Mittel, das dabei meistens zum Einsatz kommt, heisst Procain. Es enthält keine Zusatzstoffe, die Nebenwirkungen auslösen können, es fördert die Durchblutung an der angewendeten Stelle, wird rasch abgebaut und ist auch für Kinder und Schwangere gut verträglich. Vorsicht ist aber angebracht bei Menschen, die darauf allergisch sind, oder wenn jemand Blutverdünnung hat. Zudem muss es sehr sorgfältig gespritzt werden, damit kein Organ verletzt wird.
Procain soll aber nicht in erster Linie gegen die momentanen Schmerzen wirken, es soll Reize setzen und falsche Reize der Nerven unterbrechen, sodass schmerzhafte Reizungen verschwinden und oft eigentliche Teufelskreise in der Schmerzentwicklung unterbrochen werden.
Ein grosser Teil ist Schulmedizin
Bei über Jahre anhaltenden Erkrankungen wie chronischen Kopfschmerzen, Gelenkerkrankungen, chronischen Nacken-Schulter-Verspannungen, Rückenweh, Asthma oder chronischen Magen-Darm-Beschwerden ist der auslösende Reiz, also die Ursache des Leidens, oft nicht mehr herauszufinden. Hier kann die Neuraltherapie helfen, indem sie via Nervensystem an die Wurzel des Übels gelangt.
In erster Linie wird dabei an der Stelle gestochen, wo der Schmerz oder die Funktionsstörung auftritt. Das können zum Beispiel Narben sein, die wehtun, empfindlich oder «wetterfühlig» sind. Aber auch bestimmte Nerven, Gelenke oder Organe können behandelt werden. Das heisst aber nicht, dass dort, wo es wehtut auch der Ursprung des Schmerzes liegen muss. Manchmal liegen diese Orte an ganz anderen Körperstellen!
Ein Beispiel: Herr Müller hat chronische Schmerzen im rechten Knie, besonders schlimm sind sie, wenn das Wetter wechselt. Untersuchungen zeigen keinen Befund, Behandlungen am Gelenk bringen keinen Erfolg. Doch als Herr Müllers Operationsnarbe am Rücken mit Neuraltherapie behandelt wird, verschwinden die Knieschmerzen!
Ein bereits durch Arthrose geschädigtes Gelenk lässt sich durch Neuraltherapie zwar nicht heilen. «Je nach Situation und je nachdem, was für eine Gelenkserkrankung vorliegt, kann die Neuraltherapie aber eine Verbesserung bewirken, was sich wiederum in weniger Schmerzen zeigen kann», erklärt Professor Lorenz Fischer, Dozent für Neuraltherapie an der Universität Bern. «Selbstverständlich kann auch eine Arthrose nicht mehr geheilt werden, doch der Zustand des Gewebes, das sie umgibt – Muskeln, Bänder, Sehnen und so weiter – kann durch Neuraltherapie verbessert werden.» So können auch Schmerzmittel gespart werden, die oft unangenehme Nebenwirkungen haben. Und manchmal lässt sich auch eine Operation vermeiden.
Obwohl ein Teil der Neuraltherapie Schulmedizin ist, kann sie nicht jeder Arzt anwenden. Es braucht dazu eine Spezialausbildung. In der Schweiz gibt es rund 200 Ärzte, die diese Ausbildung haben. Adressen – und mehr Informationen – finden Sie auf www.santh.ch
Infos zum Thema
1925 entdeckten die deutschen Ärzte Ferdinand und Walter Huneke die Heilwirkung des intravenös gespritzten Betäubungsmittels Procain und legten damit den Grundstein der Neuraltherapie. Seither werden wissenschaftliche Grundlagen zum besseren Verständnis erarbeitet. Die Methode darf nur von Ärzten mit dem Fähigkeitsausweis Neuraltherapie angewendet werden. Ein Teil der Neuraltherapie ist mit der Schulmedizin identisch und wird deshalb in der Schweiz über die Grundversicherung abgerechnet. Für die sogenannte Störfeldtherapie braucht es eine Zusatzversicherung für Komplementärmedizin.
Wann wird Neuraltherapie angewendet?
Die wichtigsten Anwendungsbereiche sind: Migräne und andere Kopfschmerzarten, Rückenschmerzen, Gelenkschmerzen, Muskel- und Sehnenschmerzen. Narbenbeschwerden, Durchblutungsstörungen, Schlafstörungen, Verstopfung und weitere Magen-Darm-Beschwerden.
Wann darf Neuraltherapie nicht durchgeführt werden?
Bei einer Allergie gegen das Lokalanästhetikum. Keine tiefen Injektionen bei Gerinnungsstörungen oder bei der Einnahme blutgerinnungshemmender Substanzen.