Bitter tut gut

Natürlicher Appetitzügler und Jungbrunnen in einem: Bitterstoffe in Kräutern und Gemüse zählen zu den vernachlässigsten Fitmachern. Sie halten die Verdauung in Schwung und ­bringen die Darmflora in Form.

In der traditionellen ayurve­dischen, chinesischen, tibetischen sowie europäischen Naturmedizin spielen Bitterstoffe seit Jahrhunderten eine zentrale Rolle. Ihre gesundheits- und verdauungsfördernde Wirkung begeisterte im Mittelalter nicht nur die Äbtissin Hildegard von Bingen, sondern später auch den Pfarrer Sebastian Kneipp oder den Schweizer Naturheilkunde-Pionier Alfred Vogel.

Heutzutage sind bittere Kräuter und Gemüse weitgehend aus dem Alltag und von unserem Teller verschwunden. Dies liegt daran, dass Bitterstoffe aus Chicorée, Rosen­kohl oder Artischocken «herausgezüchtet» worden sind. Produziert wird Gemüse, das moder­nen Geschmacksvorlieben entspricht und «süsslicher» schmeckt, als von der Natur vorgesehen. Die eher unangenehm mundenden Bitterstoffe kennen viele Menschen höchstens noch von appetitanregenden Aperitifs und verdauungsregulierendem Magenbitter – wenn überhaupt.

Fehlende «Appetitzügler»

Gemäss Dr. Andrea Überall, Autorin des Ratgebers «Herb- und Bitterstoffcode», kurbeln Bitterstoffe insbesondere die Produktion von Magen- und Gallensaft an. Dies verbessert die Nährstoffaufnahme, erleichtert die Fettverdauung und optimiert die Darmflora. «Ein weiterer positiver Aspekt der Bitterstoffe besteht darin, dass sie das Hungergefühl dämpfen. Besonders der Heisshunger auf Süsses wird gestillt», so die ganzheitliche Ernährungsberaterin Überall, die auf tibetische Medizin spezialisiert ist. Sie und weitere Experten nehmen an, dass der Mangel an Bitterstoffen im modernen Essen dazu beiträgt, dass manche Menschen kein Sättigungsgefühl mehr verspüren. Und dies wiederum könnte ein Grund sein für die starke Zunahme von Übergewicht in unserer Gesellschaft. «Früher waren diese natürlichen Essbremsen im Getreide, in fast allen Gemüsen und in vielen Obstsorten enthalten. Sie bewirkten, dass der Appetit auf natürliche Weise auf ein gesundes Mass gezügelt wurde», bringt es die deutsche Heilpraktikerin Hannelore Fischer-Reska auf den Punkt.

Was passiert bei einem Mangel?

Bitterstoffe regulieren nicht nur die Verdauung und halten schlank. Ihr Wirkspektrum geht weit darüber hinaus. Sie «trai­nieren» auch die Schleimhäute. Durch den bitteren Geschmack ziehen sich die Schleimhäute zusammen und dehnen sich dann wieder aus. Dabei können Gifte, Stoffwechselschlacken, Viren und Bakterien sowie Pilze leichter abtransportiert und ausgeschieden werden. Ausserdem wirken Bitterstoffe stark basisch und helfen dem Organismus zu entsäuern. Nicht ohne Grund sagt der Volksmund: «Was bitter im Mund, ist dem Magen gesund».

Ein Mangel schwächt die Verdauung und kann «modernen Krankheiten» wie Magen-Reflux oder erhöhtes Cholesterin be­günstigen. Arbeitet die Verdauung unge­nügend, kann der Darm die Nähr- und Vitalstoffe aus dem ­Essen nicht ausreichend aufnehmen. Zudem können sich Gift­stoffe in den Gelenken ablagern. Oder Allergien bzw. Autoimmun­erkrankungen ausgelöst werden.

Bitterstoffe zuführen

Auch wenn sie nicht mehr so bitter schmecken wie früher, lohnt es sich dennoch, möglichst oft «bittere» Gemüse und Kräuter zu verzeh­ren. Dazu zählen Artischocken, Chicorée, Endivien, Löwenzahn, Radicchio, Rosenkohl oder Rucola. Zum Würzen eignen sich Anis, Bockshornklee, Galgant, Ingwer, Kardamom, Kerbel, Kümmel, Kurkuma, Liebstöckel, Lorbeerblätter, Majoran, Pfefferminze, Rosmarin und Wacholder.

Um einen Bitterstoff-Mangel kurmässig auszugleichen, gibt es in Apotheken, Drogerien und Reformhäusern spezielle Bittertees und Bitterstoff-Tinkturen, die beispielsweise Beifuss, gelben Enzian, Hopfen, Kümmel, Löwenzahn, Mariendistel, Schafgarbe, Tausendgüldenkraut oder Wermut enthalten.



Was sind Bitterstoffe?

Die «Amara» (so heissen die Bitterstoffe im Lateinischen) sind keine -eigentlichen Nährstoffe. Wie ätherische Öle, Flavonoide oder Gerbstoffe zählen auch sie zu den sekundären Pflanzenstoffen, von denen bisher rund 30 000 verschiedene bekannt sind. Bitterstoffe sind chemisch sehr unterschiedlich strukturiert, haben aber etwas gemeinsam: Von allen Pflanzen und Gemüsen unterstützen sie die Verdauung am wirksamsten. Als bitterster Naturstoff gilt die Wurzel des gelben Enzians, dicht gefolgt vom Wermutkraut. Wer schon mal einen ungesüssten Wermuttee getrunken hat, wird das bittere Erlebnis kaum vergessen.