«Low Vision»
Augenerkrankungen: So geht es auch mit schlechtem Sehen
Wenn Augenerkrankungen so weit fortgeschritten sind, dass weder Medikamente noch eine Operation helfen, so ist nicht aller Tage Abend. «Low Vision» nennt sich ein Angebot, das in vielen Fällen helfen kann.
Lesen, Kreuzworträtsel lösen, nähen – das alles gehörte für Margrit F. (80) zu den Dingen, die ihr wichtig waren im Leben. Auch als ihre Sehkraft nachliess und der Arzt eine Makuladegeneration feststellte, setzte sie alles daran, diese Hobbys weiterhin pflegen zu können. Und natürlich wollte sie ihre Selbständigkeit nicht verlieren, weiterhin selber kochen, selber einkaufen, ihre Post erledigen. Doch ihre Augen liessen sie immer mehr im Stich, und eines Tages musste ihr der Augenarzt eröffnen: «Ich kann nichts mehr für Sie tun.»
Ein böser Schlag. Aber glücklicherweise drückte der Arzt ihr auch eine gute Adresse in die Hand: die einer Beratungsstelle, in ihrem Fall der Zürcher Sehhilfe, Mitglied des Schweizerischen Zentralvereins für das Blindenwesen. Dort meldete sich Frau F. gleich mal an und vereinbarte einen Termin für eine «Low Vision»-Beratung. So nennt sich das Angebot, mit dem bei schwindender Sehkraft noch möglichst viel Selbständigkeit herausgeholt werden soll.
Wenn die Brille nichts mehr bringt
Monika Schrepfer, Augenoptikerin und Low-Vision-Trainerin bei der Sehhilfe Zürich kennt die Probleme von Menschen wie Frau F. Es sind meistens ältere Menschen, und sie haben sehr ernste Augenerkrankungen: Makuladegeneration, Glaukom, diabetische Retinopathie, Augen-Infarkt, Retinitis pigmentosa. Das sind keine Fehlsichtigkeiten, die sich mit einer Brille korrigieren lassen.
Die Low-Vision-Beraterin geht erst mal genau auf die Diagnose ihrer Klientin ein, erklärt auch die Auswirkungen. Dann geht es darum, Hilfsmittel zu suchen, die spezifische Aufgaben erleichtern. «Wo genau haben Sie Schwierigkeiten?», will die Beraterin von ihren Klienten wissen. Ist das Gesichtsfeld eingeschränkt, sieht er oder sie unscharf – und in welchen Fällen stört dies am meisten. «Ich kann meinen Haushalt nicht mehr führen, die Post nicht mehr erledigen», sind Klagen, die Monika Schrepfer oft zu hören bekommt. Aber auch: «Ich sehe Gesichter nicht mehr, kenne die Leute nicht, kann Lichtsignale nicht mehr erkennen!»
Ein spezieller Vergrösserungsbedarfstest bringt Klarheit, wie viel allein mit einer Vergrösserung gewonnen werden kann. Zur Vergrössserung gibt es die verschiedensten Hilfsmittel:
- Handlupen. Praktisch für unterwegs, allerdings ist dabei eine Hand immer besetzt. Und das richtige Lesen damit muss gelernt sein!
- Lupenbrillen mit eingebauten oder aufgesetzten Lupengläsern. Sie ergeben ein grösseres, stabileres Sehfeld als Handlupen – und man hat die Hände frei.
- Tischlupen mit Beleuchtung helfen z. B. beim Zeitunglesen.
- Mobile Bildschirmlesegeräte filmen Schriftstücke oder Gegenstände ab und geben auf dem Display ein vergrössertes Bild wieder. Der Grad der Vergrösserung lässt sich anpassen, ebenso das Licht.
- Stationäre Lesegeräte können noch viel mehr vergrössern, sind allerdings auch viel teurer als die handlichen mobilen Geräte.
Auch Spezialfilter gegen Blendung können oft viel helfen. «Gute Beleuchtung und verstärkter Kontrast können sehr wichtig sein», erklärt Frau Schrepfer.
Oft ein Aha-Erlebnis
Diese Beratung braucht viel Zeit, man muss die Hilfsmittel ausprobieren, oft auch einüben. Manches kann man zum Ausprobieren auch nach Hause mitnehmen. «Der Gewinn dieser Beratung ist die grössere Selbständigkeit, das ist das höchste Ziel», so die Fachfrau. Sie ist seit 15 Jahren in ihrem Beruf tätig, «und meine grosse Motivation ist, dass ich Menschen helfen kann, das Beste aus ihrem verbleibenden Sehvermögen herauszuholen, und die Leute enorm dankbar sind. Viele hatten die Hoffnung verloren und freuen sich sehr, wenn sie merken, dass man ihnen doch noch helfen und etwas verbessern kann.» Oft ist es ein eigentliches Aha-Erlebnis.
Sind nach der Low-Vision-Beratung noch andere Schwierigkeiten da, können bei der Zürcher Sehhilfe zusätzliche Angebote weiterhelfen. «Zum Beispiel für die Probleme ausserhalb des Hauses, bei der Orientierung und der Mobilität», erklärt Selvi Küçük, Sozialarbeiterin und Rehabilitationsfachfrau. Sie weiss, dass es etwas Überwindung kostet, einen weissen Stock zu benützen. Doch: «Wer mal einen hat, will ihn meistens nicht mehr hergeben.» Erstens hat er eine Signalwirkung für andere, daneben gibt es auch Stöcke, die stützen oder als Wanderstock dienen können. Die Orientierungs- und Mobilitätslehrerin macht die Betroffenen auf Hilfen wie Markierungen und Vibra-Funktionen an Ampeln aufmerksam. Ein weiteres Angebot nennt sich «Lebenspraktische Fähigkeiten». Mit Hilfe der Fachperson können Strategien und Techniken für den Alltag, im Haushalt, beim Kochen, Essen oder bei der Körperpflege erlernt werden. «Vieles geht nach wie vor, man braucht vielleicht einen kleinen Trick oder ein Hilfsmittel», so die Fachfrau. «Manche Leute entwickeln auch selber Strategien – manchmal kann man sie nur bestätigen.» Wer wenig sieht, lernt, auf andere Sinne auszuweichen: Tastsinn, Hören, Stimmen erkennen. Auch Kurse zur Freizeitgestaltung und Kontaktpflege werden hier angeboten – wichtig, um einer Isolierung vorzubeugen.
Auch wer sich nicht beraten lässt, kann im Hilfsmittel-Shop der Beratungsstelle viel Nützliches finden – vom sprechenden Wecker über Uhren zum Aufklappen, damit man das Zifferblatt ertasten kann, Vibrations-Uhren, spezielle Radios, Handys, Fernbedienungen, spezielle Portmonnaies, Banknotenprüfer, sprechende Küchenwaagen, Fieber- und Blutdruckmesser bis zum «Eile mit Weile» mit magnetischen Spielfiguren, ertastbaren «Bänkli» und Würfelaugen. Genial: der foxy Reader. Er liest von einem Punkt, den man besprochen und auf ein Produkt geklebt hat, ab, was drin ist. «Salz», sagt er. Oder «Saucenfonds». Der Shop der Sehhilfe ist an Werktagen nachmittags immer offen – eine Anmeldung empfiehlt sich trotzdem. Damit man sich all die praktischen Dinge auch erklären lassen kann.
Hier gibt es Hilfe
«Low Vision»-Beratung und -Rehabilitation ist ein Angebot, das Menschen weiterhilft, die von einer Sehbehinderung betroffen sind und für die nach augenärztlichen Untersuchungen und Behandlungen eine Heilung mit medizinischen Massnahmen nicht mehr möglich ist. Die Beratungsstellen in allen Regionen der Schweiz stehen Interessierten gerne zur Verfügung. Rehabilitations-Angebote werden vom Bundesamt für Sozialversicherungen subventioniert oder von den Krankenkassen übernommen.
Die Zürcher Sehhilfe und auch andere Beratungsstellen sind jedoch auch auf private Spender und Spenderinnen angewiesen, um die vielfältigen Angebote aufrechtzuerhalten. Adressen von Beratungsstellen und weitere Informationen finden Sie auf www.schlechtsehen-gutleben.ch