Dieser Mann geht ans Herz

Vor 20 Jahren hat ein Dok-Film den Schweizer Herzchirurgen ins Rampenlicht gerückt. Noch heute steht er im Einsatz und widmet sich mit seiner Stiftung den kleinsten Patienten. Privat gehört sein Herz seit über 15 Jahren TV-Moderatorin Sabine Dahinden.

Von Aurelia Robles

Seine Patientinnen und Patienten trägt Thierry Carrel Dahinden (64) immer bei sich – und zwar abgespeichert auf seinem Laptop. «Ich werde öfter von ihnen oder ihren Verwandten an­gesprochen», erklärt der bekannteste Schweizer Herzchirurg. «So kann ich den Fall sofort nachschauen. Bestimmte Fälle werde ich niemals vergessen, doch in Erinnerung habe ich nicht jeden einzelnen.» Bis heute war er bei 12  500 Herzeingriffen als Operateur, Ausbildner oder Assistent dabei. In der Aktentasche befinden sich auch zwei Stapel C5-Couverts. In den nächsten Tagen wird er Danksagungen schreiben. Nach einem Todesfall ­wurde die Corelina Stiftung, wo er als Präsident amtet, berücksichtigt und erhielt Spenden. «Jede Briefmarke klebe ich selbst darauf», sagt Carrel, der über 20 Jahre lang die Klinik für Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern leitete. Vor zehn Jahren hat er mit zwei Kollegen aus seinem damaligen Team die Stiftung für das Kinderherz ins Leben gerufen. «In der Klinik haben Patienten, die mit unserer Arbeit zufrieden waren, häufig gefragt oder geschrieben, ob es ein Forschungsprojekt oder einen humanitären Einsatz gebe, die sie unterstützen könnten.» 

Vor 20 Jahren rückte ein SRF-Dok-Film den gebürtigen Fribourger ins Rampenlicht. «Ich wurde angefragt und konnte ehrlich gesagt nicht abschätzen, was diese Aufmerksamkeit bedeutet. Auch nicht für all meine Kollegen, die ebenfalls einen guten Job machten», sagt er, der längst eine Koryphäe seines Fachs ist, rück­blickend. «Danach habe ich mich etwas zurückgehalten.» Denn der Film «Der Herzchirurg Thierry Carrel» rückte nicht nur die beruflichen, sondern auch die privaten Herzens­angelegenheiten des damals verheirateten Familienvaters ins Rampenlicht. Einige Jahre später wurde öffentlich über eine Verbindung zu «Schweiz aktuell»-Moderatorin Sabine Dahinden (56) spekuliert, bevor diese tatsächlich eintraf. Mittlerweile sind die Journalistin und der Herzchirurg seit 15 Jahren verheiratet. «Es war eine intensive Zeit», erinnert er sich und macht eine Bewegung wie mehrere Herzschläge aneinander. «Ich widmete mich zwar intensiv meiner Tochter, doch als junger Chef war ich im Beruf stark gefordert, meine Familie musste mich oft entbehren, weil ich mich oft auch nachts und am Wochenende den Patientinnen und Patienten widmen musste.» Umso mehr freue es ihn, dass seine Frau und er heute ein wunderbares Verhältnis zu seiner Tochter Aline und zu seiner Ex-Frau und ihrem Partner pflegen. «Wir feiern die Feste und Geburtstage zusammen.» 

Ehe mit viel Verständnis

Schon im Dok-Film von 2005 beschäftigte sich Thierry Carrel mit seinem Karriere-Ende. «Die Frage ist: Wie kann ich irgendwann aufhören, gesundheitlich möglichst in Form, mit vielen Interessen neben der Medizin und nicht als sozial isolierter Mensch?» Auf die Aussage angesprochen, lacht er. «Ja, es ist sehr gut rausgekommen. Heute kann ich sagen, ich bin sehr glücklich.» Seit zwei Jahren ist er nicht mehr in einem Spital angestellt, sondern selbständig und steht für Konsultationen, Gutachten oder als Operateur zur Verfügung. Seit 2022 sitzt er im Gemeinderat und ist Sozialvorsteher von Vitznau LU. Zudem spielt er in mehreren Orchestern Bassposaune, bald steht wieder ein Konzert an. Und nicht zuletzt die Arbeit für die Corelina Stiftung. «Die einzige Herausforderung ist die Agenda. Früher war ich an einem Ort tätig und hatte zudem eine Sekretärin.» Auch Gattin Sabine Dahinden hat als Journalistin unregelmässige Arbeitszeiten, weshalb in ihrer Ehe die gegenseitige ­Toleranz, Akzeptanz und auch die nötige Flexibilität wichtig ist. «Es gibt bei uns ­wegen der Arbeit keinen Stress», sagt er. «Wer zuerst zu Hause ist, schaut, was eingekauft wird. Das ist für uns beide völlig normal, es gibt kein Pflichtenheft. Und wenn mal bei ihr oder bei mir beruflich ­etwas dazwischenkommt, ist das so.»

Ausgleich zu seinem Beruf findet Thierry Carrel seit Teenagerzeit auch auf dem Rennvelo. «Auf dem Sattel kann ich nicht nur sehr gut überlegen, sondern auch Ärger oder Enttäuschungen verarbeiten. Wahrscheinlich, weil ich auf andere Sachen konzentriert bin: die schönen Landschaften sehe und den Duft von Feldern und Bauernhöfen rieche.» Mit Sabine besucht er öfter klassische Konzerte und gemeinsam unternehmen sie in der Zentralschweiz Bergwanderungen. Sein eigenes Herz macht bisher gut mit. «Doch jeder Frühling, in dem ich wieder aufs Rennrad steige, ist ein neuer Start. Und jedes Jahr wird es schwieriger.» Sich mit dem eigenen Alter und auch mit dem eigenen Tod auseinanderzusetzen, ist ihm ein besonderes Anliegen. «Ich bin 64 und habe schon so viele Freunde verloren. Es macht Sinn, gewisse Sachen schriftlich festzuhalten. Das ist auch eine Verpflichtung den Liebsten gegenüber, damit sie wissen, was ich gewollt hätte. Denn sterben werden wir alle.» 

In der Herzchirurgie sind in den letzten zwei, drei Jahrzehnten Todesfälle gemäss Thierry Carrel seltener geworden. «Aber in der Gesellschaft existiert ein Machbarkeitswahn und wir als Mediziner sind in einem Machbarkeitszwang», sagt er. «Auch wenn wir unser Bestes geben, kann Mutter Natur eine unvorhersehbare Entwicklung nehmen.» Einen Patienten zu verlieren, sei eine Belastung, die er niemandem wünsche und die er glücklicherweise äusserst selten erlebt habe. «Den Angehörigen zu sagen, dass ­jemand nicht überlebt hat, kostet die ­Energie von 50 Operationen.»

Reise zurück in die frühe Vaterzeit

Wie lange Thierry Carrel noch im Operationssaal stehen wird? «Ich gebe mir noch zwischen fünf und sieben Jahre.» Ins­besondere bei den Einsätzen für Corelina kommen oft Extreme zusammen: kleines Team, wenig Material, dazu noch eine Zeitverschiebung von mehreren Stunden. «Aber verrückt ist, dass ich mich noch gar nicht im Rentenalter sehe. Dass Sabine ein paar Jahre jünger ist als ich, ist natürlich ein Vorteil.» Die Jahre bis zu ihrer Pensionierung betrachtet er als seine Überbrückungszeit. Denn von einem Beruf abzutreten, der ein grosser und starker Teil des eigenen Lebens ausmache, sei nicht einfach. «Ich glaube, das ist ein Ausstiegs­prozess, der genau wie der Einstiegsprozess abgefedert und geplant werden muss.» 

Thierry Carrel muss jetzt weiter. Verschiedene Termine stehen an. Unter anderem versucht er Material wie Herzklappen, die hier kurz vor dem Ablaufdatum zurückgezogen werden, für seine Stiftung zu erwerben. Denn im März geht es für ihn in die Mongolei zur nächsten Mission, es wird seine 101. Auslandsmission. «Als Arzt gibt es keine Verpflichtung dazu, es ist eine persönliche Überzeugung.» Die kleinsten Herzen haben es ihm angetan, weil gerade in der Forschung diese auf der Strecke bleiben würden. Zu wenig gross und zu wenig lukrativ sei der Markt für die Versorgung von Kindern. Die Ein­sätze sind für ihn immer wieder Reisen in eine frühere Zeit. Einerseits wegen der technischen Rückstände in den jeweiligen Ländern, «andererseits bringen sie mich in meine frühe Vaterzeit ­zurück. Als meine Tochter klein war, war ich emotional noch näher an diesen Kindern, besonders wenn sie im gleichen Alter wie ­Aline waren.» Von seinen ­Einsätzen schickt er gerne Eindrücke nach Hause an seine Frau. «Manchmal sende ich ihr Fotos von der Narbe oder aus dem Operationssaal. Und natürlich wachsen mir die kleinen Patienten ans Herz, überall, wohin ich gehe.»