André Lüthi
Er bereiste schon über 100 Länder
Rund um den Globus ist er unterwegs: Der Chef des viertgrössten Schweizer Reiseanbieters enthüllt sein abenteuerliches Leben. In der Biographie «Karma» teilt der Berner seine Geschichten, Erfahrungen und persönlichen Erkenntnisse.
Von Aurelia Robles
Direkt am Waldrand im Mühletal bei Schmitten FR aufgewachsen, weckt der Beginn des grünen Dickichts die Neugier des sechsjährigen André. Was wohl hinter dem Wald ist, nahm es ihn wunder. «Es dauerte nicht lange, da wusste ich, dass hinter dem Wald ein neuer Wald beginnt», erinnert er sich. «Und so spielten wir Bonanza und ritten mit unseren Steckenpferden immer weiter.» Aus einem Besen und einer Socke als Kopf hatte ihm seine Mutter eines gemacht.
Aus dem Wald wurde irgendwann die Welt, und aus dem sechsjährigen André Lüthi der Verwaltungsratspräsident und Mitinhaber des viertgrössten Reiseanbieters des Landes. Seit 1987 arbeitet er, ein ausgebildeter Bäcker-Konditor, bei Globetrotter und ist nach Jahren im Amt als CEO längst das Gesicht des Unternehmens geworden. Geht es nach ihm, ist er in erster Linie aber «Entdeckungsreisender». «Das kann man nicht erlernen, sondern man hat es in sich, das Nomadenhafte, das Interesse an anderen Menschen und anderen Welten.»
Über 100 Länder hat der 64-Jährige bisher bereist, auch Grönland, Nordkorea, die Arktis und die Antarktis. Zuletzt war er mit Partnerin Sibylle Mehmann (33) für einen Monat und zum ersten Mal in Simbabwe. Viele Länder besucht Lüthi immer mal wieder. Seit 1984 war er alleine 55-mal in Nepal und ist berührt: «Die Kultur, die Natur, die Gastfreundlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit und Herzlichkeit der Menschen – vielleicht hatte ich da ein vorheriges Leben», meint er. Die nepalesische Hauptstadt Kathmandu ist neben Bern seine zweite Heimat. «Die Schweiz ist und bleibt das beste Basiscamp», sagt der begeisterte Naturliebhaber, der mit zwölf Jahren mit einem Freund mit dem Velo nach Zermatt zum Matterhorn radelte und nicht an den Thunersee, wie er den Eltern erzählte.
Über sein Leben ist kürzlich eine etwas andere Art von Biographie erschienen, das Buch «Karma». Autor Frank Baumann (67) hat mit dem Schweizer Globetrotter ein 18-stündiges Gespräch, verteilt über elf Reisetage in Nepal geführt und dieses niedergeschrieben. Von der ersten USA-Reise über Begegnungen mit Grössen wie dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton bis hin zum ersten Date bei strömendem Regen mit Sibylle sind darin viele Geschichten zu finden. Einige davon hatte André Lüthi nicht einmal seiner Mutter Gertrud, die er zweimal pro Monat besucht und deren Apfelrösti aus altem Brot noch immer seine Lieblingsspeise ist, so ausführlich erzählt. «Sie hat das Buch gelesen. Dass meine erste Freundin Trix auf unserer Nepalreise 1984 erkrankte, wusste sie, aber nicht, dass sie beinahe ihr Leben verloren hätte.» Auch André Lüthi hat durch das Buch etwas über sich gelernt. «Ich vertraue Menschen sehr schnell und erzähle dann sehr offen.» Kein Wunder, gibt es auch ein Kapitel über Erzählungen, die es auf seinen Wunsch hin nicht ins Buch geschafft haben.
Erster Flug in den Osten
Sehr gut und behütet, aber bescheiden wächst André Lüthi mit zwei jüngeren Brüdern auf. Der Vater war als Verkaufschauffeur für einen Eiergrosshändler tätig, daneben züchtete die Familie Kaninchen. Als Teenager war André – er duzt auch heute mehrheitlich – im Ringer-Klub aktiv. Ein Trainingslager führte ihn als 16-Jährigen erstmals auf «fremden» Boden, nach Ostrava im Osten von Prag. «Das war noch vor dem Zerfall, also in die damalige Tschechoslowakei», sagt er. Dank des Sports sieht er erstmals die Wolken von oben. Dafür sah er vor Ort nicht viel mehr als die Kaserne und die Wettkampfarenen. «Aber da fing es an, in diesen sechs Tagen schloss ich interkulturelle Freundschaften. Das faszinierte mich.»
André Lüthi weiss, dass es für gegenseitiges Verständnis nicht dieselbe Sprache braucht. «Ich hatte Begegnungen mit Menschen, mit denen ich die Sprache nicht teilen konnte, sei es in Tibet, China oder Sulawesi. Und spürte trotzdem eine extreme Nähe. Es geht eben auch ohne Worte.» Er selbst spricht nur Deutsch und Englisch «richtig», mittlerweile auch ein bisschen Nepali, verfügt über einen gewissen Wortschatz in Russisch. «Und zehn Wörter wie danke, guten Appetit oder Entschuldigung in der jeweiligen Sprache des Landes zu können, rate ich jedem.»
Seine Lebensschule
Bei all dem Erlebten gibt es eine schöne und eine traurige Geschichte, die André Lüthi nie müde wird, zu erzählen. «Die positive handelt davon, was ich auf Reisen gelernt habe. Meine Grenzen, meine Fehler, auch Überforderungen, den Umgang mit Menschen, Toleranz, Respekt, Führung», sagt er. «Ich möchte jeden verstehen und sehe zuerst immer das Gute im Menschen. Das habe ich im Himalaja gelernt.»
Die traurige Geschichte handelt vom Tsunami in Thailand. Die Tragödie jährte sich am 27. Dezember zum 20. Mal. Damals stieg André Lüthi, weil er ortskundig war, gemeinsam mit einem Rega-Arzt ins erste Flugzeug, um nach Überlebenden zu suchen. «Vor Ort haben wir einfach funktioniert», sagt Lüthi. «Aber es ist prägend, wenn du jeden Tag bis zu 200 Leichen anschaust und nach Schweizern suchst.» Bei der Verarbeitung hat ihm geholfen, dass er bei früheren Reisen in den Himalaja sich innerhalb der buddhistischen Philosophie schon mit dem Tod auseinandergesetzt hatte. «So, im Gespräch, empfinde ich keine Angst vor dem Tod. Aber auch ich habe Respekt davor, sonst wäre ich wohl längst nicht mehr hier.»
All seine Abenteuer in anderen Welten und Extremen hat André Lüthis Körper bisher mitgemacht. «Ich war nur einmal im Spital und muss auf Holz klopfen.» Das Tempo, mit dem er durchs Leben rast, ist daher ungebremst. Viele Leute haben ihn begleitet, einige blieben auf der Strecke. «Dieser Hansdampf, der ich bin», beginnt Lüthi, «schon Silvia, die Mutter unserer beiden Kinder, sagte öfter: ‹Hey, hey, fahr runter, es ist gerade etwas viel.›» Das Paar hatte 1998 auf dem höchstgelegenen Standesamt der Schweiz, in der Gemeinde Juf im Bündner Avers-Tal, geheiratet. Sechs Monate später kam Tochter Neva Kaila zur Welt, es folgte Sohn Levin. 2012 trennten sie sich. «Ich habe gemerkt, dass ich dieses Interessiertsein, das immer Aktivsein selber nicht als negativ oder belastend empfinde. Ich schöpfe vielmehr daraus Energie», sagt er und lacht. «Oder vielleicht verdränge ich auch etwas, wer weiss. Aber das wäre ein anderes Buch.»
Es ist klar: Auch wenn die Anzahl an Wäldern und die Welt begrenzt sind, André Lüthis Reiselust bleibt grenzenlos. Und wie sagte ein Lama einst zu ihm: «Das Glück findest du nicht bei deinem Arbeitgeber, deiner Partnerin oder dort, wo du lebst, sondern nur in dir selbst», gibt Lüthi wieder und realisiert: «Oh, diese Anekdote habe ich im Buch vergessen!»