Ein bewegtes Leben dank Ballett

Einst Mittelfeld im Kinderballett, ist sie heute eine gefragte Musical­darstellerin. Nun probt sie in Zürich für die Schweizer Version von «Billy Elliot». Die 51-Jährige steckt voller Energie und geniesst es, wenn sie die Beine kicken kann.

Von Aurelia Robles

Das Mädchen braucht stärkere Beine, fand die Grossmutter und steckte ihre fünfjährige Enkelin kurzerhand ins Ballett. Isabelle Flachsmann (51) lacht, wenn sie von ihren Ballettanfängen erzählt. «Ich machte immer schlapp beim Wandern, also fand sie, dass ich zu schwache Beine habe.» Und so trainierte sie fortan einmal pro Woche im Kinderballett. «Es war nicht wahnsinnig intensiv und ohne grosse Ambitionen. Aber am Schluss des Trainings durften wir immer noch das Rädli schlagen, was ich am coolsten fand.»

Gut 45 Jahre später wirbeln dieselben Beine im Schnelltempo über die Bühne der Maag Halle in Zürich. Aus der Fünfjährigen ist längst eine ­gefragte Musicaldarstellerin geworden. Zehn Jahre lebte sie gar in New York und tanzte und sang mehrere Jahre am Broadway. Aktuell probt die gebürtige Zugerin für die Schweizer Version des Erfolgs-Musicals «Billy Elliot» mit Liedern von Elton John (77).

Die britische ­Geschichte, die im Jahr 2000 verfilmt wurde, handelt vom kleinen Billy, der sich entgegen aller Widerstände seinen Weg vom Boxring an die Ballettstange bahnt. Isabelle Flachsmann spielt seine rauchende Tanzlehrerin Mrs Wilkinson. «Ich wusste, dass diese Rolle perfekt für mich ist und war richtig nervös, ob ich sie auch erhalte», gesteht der Bühnenprofi. «Mit meinem Ballettwissen, das ich mit mir trage und all den Ballettlehrerinnen und -lehrern, die ich gehabt habe, kenne ich genau die Nuancen der Figur und auch die Zeit, in der das Stück spielt.» Sie selbst ist zwar alles andere als rabiat, laut und unzimperlich und die Bergwerk-Atmosphäre ist ihr ebenfalls fremd. «Mir gefällt aber an der Rolle, dass sie sich gegen alle Widerstände durchsetzt, den Männern die Stirn bietet und es schafft, Billy aus der Misere zu bringen.» Denn: «Auch ich bin schwer von etwas abzubringen.»

Aussenseiterin mit grosser Freude an Bewegung

Stepptanzen, mit hohen Ab­sätzen springseilen, über die Bühne wetzen und dabei gleichzeitig einen langen, ­hohen Ton singen: «Die Rolle hat es in sich und ich muss ­super schnell sein. Gerade ­spüre ich Muskelkater in den Wädli.» Doch auch als 51-Jährige wolle sie nicht einfach auf der Bühne stehen oder rumsitzen. «Solange ich die Sau rauslassen kann, finde ich es cool.» Am 1. November ist Premiere, weshalb die Proben auf Hochtouren laufen. «Alle Figuren sind unperfekt und liebenswert. In der Mitte aller Schicksale und Bedürfnisse steckt der Billy als Hoffnungsträger.»

Isabelle Flachsmann kennt den Werdegang, den die Hauptfigur auf der Bühne durchlebt, sehr gut. Trotz strenger Ballettlehrerinnen wie Mrs Wilkinson und blutenden Füssen, war Ballett ihre ­Leidenschaft. Sie trainierte ­während des Gymi bis zu 15 Stunden die Woche an der Ballettschule fürs Opernhaus Zürich und machte die Tests der Royal Academy of Dancing – bekannt als die wohl beste Schule der Welt – da wo Billy im Stück hingehen soll. «Ich selber wurde nie Balletttänzerin. Man riet mir aus körperlichen Gründen ab, weil die Flexibilität in der Hüfte für eine Balletttänzerin nur im schlechteren Mittelfeld gewesen wäre.» Dafür konnte sie stets gut «gumpen» und drehen, liebte es, zur Musik über die Bühne zu fliegen. «Ballett hat mir die Liebe für die Bewegung gebracht.»

Wie Billy gehörte auch ­Isabelle in der frühen Pubertät zu den Ausserseitern. «Ich kam mir vor wie das verstossene Kind meiner Klasse, war die Jüngste und noch so ein Meiteli, während die anderen in der Pubertät waren», sagt sie rückblickend. «Meine Nase und meine Füsse wuchsen auch zuerst, weshalb ich mich wie das hässliche Entlein fühlte.» Das führt dazu, dass sie als Teenager in ihre eigene Welt eintaucht – was im Endeffekt gut war. «Ich fand meinen Weg und meine Identität über das, was ich tue.» Früh kam denn auch der Wunsch in ihr auf, Musicaldarstellerin zu werden.

Zwischen Bühnenleben und Familienalltag

«Cabaret», «Chicago», «Starlight Express» – die Liste von bekannten Musicals, in denen Isabelle Flachsmann in ihrer über 30-jährigen Karriere Hauptrollen gespielt hat, ist lang. Und dennoch bringt auch jedes Musical neue Herausforderungen mit sich. «Meine Rolle raucht, und als Nichtraucherin bin ich noch am herausfinden, wie ich das machen soll und übe mit einem Steckli in der Hand die Bewegungen», erzählt sie lachend. «Es macht Spass, in diese Bergwerk-Welt einzutauchen. Und die Billy-Darsteller sind einfach wow, unglaublich fit am Start und haben ein Level, das erstaunlich ist!» Über 140 Menschen – drei davon sind Billy-Darsteller, darunter Nevio Reymond (12) – sind an der Produktion beteiligt, was «Billy Elliot» gemäss Veranstalter wohl zur grössten Musicalproduktion macht, die je in der Schweiz produziert wurde.

Kurz war auch mal Thema, ob der Sohn von Isabelle Flachsmann, Fridolin (10), im Musical mitwirkt. «Er half mir beim Text-auswendig-Lernen und spielte Billy. Das machte Fridolin wirklich super», sagt sie. «Aber als dann die Castings kamen und ich ihn fragte, meinte er: ‹Ich habe es nicht gerne, wenn mich alle anschauen.› Dann war es natürlich vom Tisch.»

Fridolin bevorzugt aktuell Karate, dessen Kurs er mit seinem Kollegen besuchen kann. Zudem liebt er Tiere und geht nun während der Herbstferien erstmals in ein WWF-­Lager. Damit Isabelle Flachsmann sich trotz Schul­ferien auf die intensiven Proben fokussieren kann, hat ihr Mann, Grafik­designer Lukas Bürki (44), in dieser Zeit freige­nommen. Die Koordination von ihrem unregelmässigen Job und dem Familienalltag ist immer wieder von neuem eine Herausforderung. «In solchen Phasen hoffen wir einfach, dass alle gesund bleiben. Denn wenn alles organisiert ist und dann ein Rädli nicht mehr dreht, kommt alles ins Rotieren. Das ist jeweils der Knackpunkt.»

Langes Pendeln für Proben

Obwohl sie täglich drei Stunden mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zwischen Bern und Zürich pendelt, geht es nach jeder Probe nach Hause. «Aktuell bleibt nicht viel Zeit. Und die, die ich habe, versuche ich mit der Familie zu geniessen und zu füllen.» Sobald die Shows losgehen, kann sie für ein Weilchen ihren Sohn nicht mehr zu Bett bringen, sondern wirbelt mit ihren längst muskulö­sen Beinen über die Bühne. «Solange ich noch ein Rädli schlagen und die Beine kicken kann, geniesse ich es einfach.»