Der Gipfelstürmer

Der bisher letzte Schweizer Strassen-Radweltmeister steht als Profisportler ganz oben. Dann stürzt er ab, erklärt nach einem positiven Dopingtest den Rücktritt. Diesen Tiefschlag verarbeitet er in den Bergen – unter anderem auf dem höchsten Punkt der Schweiz.

Von Thomas Wälti

Im Entrée der Terrassenwohnung hängt ein imposantes Bild des Matterhorns. Die Normalroute über den Hörnligrat ist gelb eingezeichnet. Am 12. September 2011, genau an seinem 40. Geburtstag, steht Oscar «Ösi» Camenzind (53) zuoberst auf dem Gipfel. «Ich habe mir das Matterhorn selbst zum Geschenk gemacht», sagt der letzte Schweizer Strassen-Radweltmeister zu Hause in Gersau SZ hoch über dem Vierwaldstättersee.

Seinen sportlichen Gipfel erreicht Oscar Camenzind am 11. Oktober 1998: Im niederländischen Valkenburg gewinnt der Bauernbub den Strassen-WM-Titel bei den Profis. Zum dritten Mal nach Hans Knecht (1946) und Ferdy Kübler (1951) feiern die Schweizer Velo-Fans den Gewinn des prestigeträchtigen Regenbogentrikots. Das ist jetzt 26 Jahre her.

Indianer statt Häuptlinge

«Am ehesten traue ich Marc Hirschi zu, mich zu beerben. Er fährt clever. Mit ein wenig Rennglück, passendem Wetter und dem Glauben an sich selbst kann er die Top-Favoriten herausfordern», sagt Oscar Camenzind vor der Rad-WM, die vom 21. bis 29. September in Zürich stattfindet. Ein massgebender Faktor sei auch die taktische Leistung des Schweizer Teams: «In einem Eintagesrennen braucht es Indianer, nicht nur Häuptlinge!» Damit spielt der Schweizer Sportler des Jahres 1998 auf frühere Strassen-WM-Rennen an, wo das Zusammenspiel und die Rollenverteilung seiner arrivierten Vorgänger Tony Rominger, Pascal Richard und Mauro Gianetti im entscheidenden Moment nicht wirklich klappte.

Je 12 000 Franken für die Helfer

An das 260 Kilometer lange Rennen seines Lebens erinnert sich der gelernte Pöstler, als wäre es gestern gewesen: «Für den ganzen Tag war Regen angesagt. Viele meiner Konkurrenten waren deswegen frustriert und mental schon an der Startlinie geschlagen. Mir dagegen haben die Wetterprognosen behagt, denn ich wusste, dass ich bei Regen und Kälte eine Spur besser fahre als bei Hitze, die mir in der Regel zusetzte.»

Das WM-Rennen entscheidet Oscar Camenzind instinktiv. 13 Kilometer vor Schluss bildet er mit Teamkollege Niki Aebersold, Top-Favorit Michele Bartoli (I), Peter van Petegem (Belgien), Lance Armstrong (USA) und Michael Boogerd (NL) eine Sechsergruppe. Nach Absprache mit Niki Aebersold greift Oscar Camenzind auf einem Flachstück an. Kontinuierlich baut er seinen Vorsprung aus. Weil kein anderer Fahrer der Fluchtgruppe Anstalten macht, das Loch zu schliessen, kommt «Ösi» weg. Am Schluss rettet er 23 Sekunden ins Ziel. Der Weltmeister zeigt sich generös und vergütet aus seiner WM-Prämie die Helferdienste der elf anderen Schweizer Fahrer mit je 12 000 Franken.

Sportliche Talfahrt

Das Jahr im Regenbogentrikot bezeichnet Oscar Camenzind hinterher nicht als Befreiung, sondern als Belastung. «Mein Leben hat sich nach dem WM-Titel um 180 Grad gedreht. Ich wurde von Medienanfragen überrumpelt, der Druck nahm zu, ich stand international im Fokus. Weil ich schlecht Nein sagen konnte, verzet­telte ich mich, die Erholungszeit kam zu kurz», schildert er die Folgen seiner Triumphfahrt in Valkenburg.

In der Saison 2001/2002 erkrankt Oscar Camenzind am Pfeifferschen Drüsenfieber. Er übersteht zwar die Krankheit, kann danach aber nie mehr sein volles Leistungsvermögen abrufen. In seiner Verzweiflung greift «Ösi» zum Blutdoping­mittel Epo. Am 22. Juli 2004 wird er ­während einer Trainingsfahrt in Altdorf von einem Kontrolleur angehalten. Weil er
die Urinprobe nicht an Ort und Stelle abgeben kann, bittet Oscar Camenzind den Kontrolleur, ihm mit dem Auto zu folgen. Auf dem Klausenpass ist es dann so weit: Die Urinprobe kann vorgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt weiss «Ösi» längst: «Mich hat es erwischt. Ich habe einen Fehler gemacht. Das war’s!» Tags darauf tritt er zurück.

«Das Karriereende kam Knall auf Fall. Es war ein Hammerschlag», sagt Oscar Camenzind. Über ein Jahr lang gönnt er sich eine Auszeit, lebt von seinem Ersparten. Die Zeit als kompromissloser Rad­profi sei mitunter beschwerlich gewesen. Ein Leben aus dem Koffer – und im Hamsterrad. 250 Tage im Jahr unterwegs; Flug­häfen, Hotels und Velorennstrecken. 

Gipfel ersetzen Psychologen

Oscar Camenzind verarbeitet den Tiefschlag in den Bergen. «Sie sind meine besten Psychologen!», sagt der Schwyzer mit einem Schmunzeln. Unmittelbar nach seinem Rücktritt besteigt er mit zwei Kollegen und einem Bergführer den Aconcagua (6962 m ü. M.) in den argentinischen Anden – den höchsten Punkt Südamerikas. In der Schweiz steht «Ösi» unter anderem auf dem Matterhorn, Zinalrothorn, Dom und auf der Dufourspitze im Monte-Rosa-Massiv, mit 4634 Metern der höchste Berg der Schweiz. «Ich habe etwa 30 Viertausender bestiegen», sagt der Gipfelstürmer. Auch seine Ehefrau Angela (52), mit der «Ösi» seit 2001 verheiratet ist, stand schon auf dem «Horu», wie die Einheimischen das Matterhorn nennen. Allerdings machte die gelernte Kauffrau die Hochtour mit einer anderen Seilschaft. «Angela und ich sind gerne in den Bergen unterwegs. Im Winter unternehmen wir viele Ski­touren», sagt Oscar Camenzind, der heute mit einem 60-Prozent-Pensum in Gersau als Pöstler arbeitet.

Einen Lebenstraum möchte sich Oscar Camenzind in naher Zukunft erfüllen: die Besteigung des 4505 Meter hohen Weisshorns. Die formvollendete Pyramide steht gegenüber dem Matterhorn. Wenn das kein gutes Omen ist: Vielleicht begleitet Angela ihren «Ösi» dannzumal bis ganz auf den Gipfel. 2011 hat sie in der Hörnlihütte am Fusse des Matterhorns noch auf ihn gewartet.