Auf dem Boden geblieben

Er galt in den 1980er-Jahren als bester Turner der westlichen Welt: Sepp Zellweger. Die Schweizer Kunstturn-Legende hat später auch im Beruf Fuss gefasst und eine erfolgreiche Bankkarriere hingelegt. 

Von Thomas Wälti

Der Kunstturn-Kommentator von SRF, Stefan Hofmänner (57), konnte die ausserirdischen Übungen der Amerikanerin Simone Biles (27) im Mehrkampf kaum in eigene Worte fassen. Also fragte er fast etwas ratlos: «Erde an Biles: Wie geht so was?» Wir wussten es auch nicht. Deshalb leiten wir die Frage an den Schweizer Kunstturn-Champion Josef «Sepp» Zellweger (60) weiter. «Was Simone Biles an den Olympischen Spielen in Paris für Flugelemente zeigt, ist von einem anderen Stern», antwortet der Rheintaler. 

Er muss es wissen: Sepp Zellweger schreibt 1984 in Los Angeles (USA) als Elfter im Olympischen Zwölfkampf ein Kapitel Schweizer Olympia-Geschichte im Kunstturnen. Bis heute hat diese Rangierung kein Schweizer Turner mehr getoppt.

Beim Treffen in der Bank Julius Bär am Zürcher Paradeplatz ist er tiefenentspannt. Monstera-Pflanzen, Wassergeplätscher und Kunstobjekte schaffen im Eingangsbereich eine Regenwald-Atmosphäre. «Das finde ich beruhigend», sagt der ­geschäftsführende Direktor und Leiter Stiftungen des Vermögensverwalters. «Hier fühle ich mich wie in meiner zweiten Heimat.» Davon später mehr.

Zellweger lädt ins Sitzungszimmer und lässt Kaffee und Eistee servieren. Auf dem Tisch liegt eines seiner fünf ­Diplome, die er an den Olympischen ­Spielen 1984 und 1988 gewonnen hat. Der Ostschweizer blickt auf das gerahmte Bild, dann sagt er nachdenklich: «Wenn ich heute eine Übung von mir anschaue, wie ich sie vor 40 Jahren turnte, muss ich mich fragen, ob das tatsächlich ich bin, der so gefährliche Elemente zeigte.»

Mehr Sicherheit dank Spiralfedern

Obwohl an den heutigen Olympischen Spielen zum Teil die gleichen Figuren ­geturnt werden wie 1984 in Los Angeles und 1988 in Seoul (Südkorea), habe sich die Sicherheit im Kunstturnen dank der Materialentwicklung stark verbessert, so Zellweger. «Früher gab es im Bodenturnen immer wieder schwere Verletzungen. Wir turnten auf einer Sperrholzplatte, die über etwas Schaumstoff zu liegen kam. Über diese Sperrholzplatte wurde eine dünne Rollmatte gezogen. Mehr Dämpfung war da nicht. Sie können sich vorstellen, welche Kräfte damals auf Knie, Fussgelenke und Rücken einwirkten.» Heute werden die ­akrobatischen Sprünge im Boden­turnen auf einer 12 mal 12 Meter grossen Bodenmatte ausgetragen, in die 2270 Spiral­federn eingebaut sind. Die 12,5 Zenti­meter hohen Federn verringern das Verletzungsrisiko markant – auch beim Pferdsprung. In dieser Disziplin sind die Federn im Sprungbrett installiert, das die Athleten unter grösstmöglicher Schonung der ­Gelenke vom Gerät wegkatapultiert.

An der Weltmeisterschaft 1983 in Budapest (Ungarn) erhält Sepp Zellweger den Ritterschlag: Er reiht sich im Mehrkampf als bester Turner der westlichen Welt direkt hinter den Überfliegern aus dem Ostblock, Japan und China ein. Im gleichen Jahr gewinnt der 1,59 Meter grosse Athlet an der Europameisterschaft in Warna (Bulgarien) Bronze an den Ringen. Aber auch 24 Schweizer-Meister-Titel in verschiedenen anderen Disziplinen schmücken seinen bemerkenswerten Palmarès.

Zellweger erhält eine Briefmarke

1988, im Jahr seines Rücktritts, erhält Sepp Zellweger einen unerwarteten Anruf. Ein Pilot der damaligen Swissair fragt ihn, ob er wisse, dass es in der Elfenbeinküste eine Briefmarke von ihm gebe. «Ich war perplex. Denn das wusste ich natürlich nicht», sagt Zellweger und lacht. Der Pilot verspricht ihm, dass er ihm einen Bogen Briefmarken mitbringen werde, wenn er das nächste Mal in den westafrikanischen Staat fliege. Gesagt, getan. «Die Marke zeigt mich anlässlich der Olympischen Spiele 1984 auf dem Barren im Grätschwinkel», sagt Zellweger. «Die Reminiszenz ist deshalb lustig, weil ich später bei der Credit Suisse unter Group CEO Tidjane Thiam (62) gearbeitet habe. Er stammt aus der Elfenbeinküste.»

Die Olympischen Spiele in Paris geniesst Zellweger vor dem Fernseher. «Ich freue mich auf die Kunstturn-Wettkämpfe, weil ich Anfang der 1980er-Jahre nie daran glaubte, dass die Schweiz in diesem weltumspannenden Sport je einmal Medaillenchancen hätte», sagt Zellweger, der von 1986 bis 1992 Rechts- und Wirtschafts­wissenschaften an der Universität Zürich und später Public Relations/Medien sowie Marketing/Kommunikation an der Universität St. Gallen studiert hat.

Sepp Zellweger lebt mit seiner indone­sischen Frau Atin (54), die er 2003 an einer Grillparty mit Freunden in Uitikon-Waldegg ZH kennengelernt hat, in Bergdietikon AG. «Im Garten unseres Hauses tanke ich auf. Das kann bei einem Apéro oder Frühstück im offenen Pavillon sein oder bei der ­Gartengestaltung», sagt er. Auch die Musik gibt ihm Energie. «Ich habe einen breit diversifizierten Musikgeschmack.» Sepp Zellweger hört gerne balinesische Entspannungsmusik, genauso aber auch rockige Töne von Alice Cooper und Deep Purple, deren Konzerte er am dies­jährigen Montreux Jazz Festival besucht hat. «Ich gehe aber auch gerne ins Opernhaus Zürich», ergänzt er. «Meine absolute Lieblingsoper ist ‹Salome› von Richard Strauss.»

Mindestens einmal pro Jahr reist Sepp Zellweger in seine zweite Heimat Indonesien, mit über 280 Millionen Einwohnern bevölkerungsmässig das viertgrösste Land der Erde. «Atins Familie lebt auf den drei Inseln Bali, Lombok und Sumbawa. Der indonesische Archipel bietet eine ­unglaubliche Vielfalt an Volksgruppen, Ethnien, Kulturen und Traditionen. Jeder Besuch ist ein besonderes Erlebnis», erzählt Sepp Zellweger.

Heiliger Mittwochabend

Den Mittwochabend hat er sich in seiner Agenda dick angestrichen. Von 20.15 bis 21.45 Uhr trainiert er jeweils mit der ­Männerriege Bergdietikon. «Dieser Abend ist mir ‹heilig›. Er gibt mir Bodenhaftung und erdet mich. Ich will nicht bloss im ­Elfenbeinturm sitzen.» Die bunt zusammengewürfelte Gruppe trifft sich zum ­Geschicklichkeitsparcours, zu einer Stafette oder einer Partie Landhockey, Fussball oder Basketball. «Nach der schweiss­treibenden Einheit trinken wir ein Bierchen und essen eine Pizza in der Dorfbeiz.» Und wenn der Männerriege-Leiter einen Barren hervornimmt? Dann mache er ihm nach, was er vorzeige. Das könne durchaus auch einmal ein Salto sein, antwortet Zellweger mit einem Schmunzeln. «Aber von mir aus würde ich den Schwierigkeitsgrad nicht einfach so erhöhen!» 

Gut so. Es muss ja nicht sein, dass wieder einer fragt: «Wie geht so was?»