«Ein rasender Schmerz durchzuckte mich»
Die in der Schweiz lebende Sara Aduse wurde als Kind beschnitten. In ihrem Buch, das ein grosser Erfolg ist, schildert sie ihr Martyrium.
Von Rudolf Zollinger
Die sonst so gestrenge Grossmutter lächelt ihre Enkelin an: «Sara, heute geben wir für dich ein Fest und du bekommst Geschenke.» Die Siebenjährige staunt. So etwas gab es noch nie, seit sie zusammen mit ihren beiden Geschwistern bei der Grossmutter in der äthiopischen Stadt Harar wohnt. Nur harte Strafen, wenn sie nicht gehorchte. «Warum?», fragt sie. «Weil du durch Beschneidung zu einer richtigen Frau wirst und dir das Paradies sicher ist», so die Grossmutter. Das müsse etwas Gutes sein, habe sie gedacht, sagt die heute 30-jährige Sara Aduse. Am Nachmittag kommen viele Gäste und die Grossmutter befiehlt ihrer Enkelin, sich auszuziehen. Frauen halten sie fest, spreizen ihre Beine. «Eine finstere Frau zog eine Spritze auf, rammte die Nadel in meine Klitoris und schnitt sie mit einer Rasierklinge ab. Ein rasender Schmerz durchzuckte mich.» Sie erwachte in einem Nebenzimmer, litt fürchterlich, wollte nur noch sterben.
Ein Jahr später war sie mit ihren Eltern, die beide fernab von Harar Arbeit gefunden hatten, wieder in einer eigenen Wohnung vereint. Sie war glücklich. 2004 kam Sara mit ihrer Mutter und ihren inzwischen fünf Geschwistern als Asylsuchende in die Schweiz. Ihr über alles geliebter «Baba» blieb in Äthiopien. Trotz des gespannten Verhältnisses zu ihrer Mutter und Problemen im Alltag machte sie ihren Weg, liess sich zur Pflegeassistentin, später zum Integralcoach ausbilden. Sie ist heute als Journalistin tätig und hat die Stiftung «Sara Aduse Foundation gegen die weibliche Genitalbeschneidung» gegründet.
Sie versuchte, ein normales Leben zu führen. Doch in ihr war eine tiefe Traurigkeit, deren Ursprung sie nicht kannte – bis sie an einem Seminar für Persönlichkeitsentwicklung teilnahm. «Dort hatte ich endlich den Mut, darüber zu reden, was man mir als Kind angetan hatte. Ich erkannte, dass mein emotionales Chaos mit dem Trauma meiner Beschneidung zusammenhing.» Es war eine Erlösung. Sara Aduse gewann dadurch an Selbstwertgefühl und war bereit, jenen zu vergeben, die an ihrem Leid schuld waren.
Auch denen in Harar: Sie flog 2019 mit einem Journalistenteam zu ihrer Grossmutter. «Sie war misstrauisch, denn in Äthiopien sind Beschneidungen verboten. Doch nach langem Zögern arrangierte sie ein Treffen mit der Beschneiderin. «Im Verlaufe des Gesprächs schilderte mir diese, wie sie mich und viele andere beschnitten hatte. Mich schauderte. Trotzdem habe ich ihr verziehen.»
Sara Aduse fährt fort: «Im Koran steht, Allah habe den Menschen so erschaffen, wie er ist, und er bedürfe keiner Veränderung. Doch durch das Beschneiden verändert man ihn. Ich bin sicher, meine Grossmutter hat verstanden.» Wie könne man nur glauben, ein Mensch sei erst mit Gott verbunden, wenn er unsägliche Schmerzen erlitten habe? «Ich wünsche mir, dass Kindern nicht mehr weh getan wird, nicht nur durch Beschneidung. Dass man ihnen keine Schmerzen zufügt, dadurch verlieren sie die Freude am Leben und ihr Vertrauen. Geht man liebevoll mit ihnen um, werden sie diese Liebe weitergeben.»