«Mich durfte es gar nicht geben»
Veronika ist das Kind eines Priesters. Berührend und nachdenklich beschreibt sie in ihrem Buch, was es bedeutet, ein verbotenes Kind zu sein, vom eigenen Vater verleugnet und von der Gesellschaft abgelehnt zu werden – und wie sie den Weg zur inneren Ruhe fand.
Wenn Veronika an ihre Kindheit denkt, erinnert sie sich, dass sie oft am Fenster stand und sehnsuchtsvoll auf ihren Vater wartete. Sie lebt damals mit der Mutter Gerti (heute 86) in einem idyllischen bayerischen Weiler, der geliebte Papa kommt nur zweimal im Monat zu Besuch, bleibt über Nacht. «Festtage», wie Veronika sich erinnert, mit Braten und Knödeln, Spielen und ausgedehnten Spaziergängen im Wald. «Aber wenn Leute kamen, liess mein Vater sofort meine Hand los. Das hat mich anfangs irritiert, später verängstigt.»
Doch ihr Leben auf einem Bauernhof ist insgesamt sorglos. Sie lebt zwar allein mit der Mutter, die als Zimmermädchen arbeitet, kennt es aber nicht anders. Genauso sorglos geht sie in die Schule und erzählt im Religionsunterricht, wer ihr Vater ist: ein in der Region beliebter katholischer Pfarrer. «Ich war ja quasi Insider», verrät sie, «durfte in der Sakristei spielen und habe gern gesagt, was ich alles weiss.»
Offenheit, die dem Bistum aufstösst. Für katholische Geistliche gilt das Zölibat. Sie müssen «enthaltsam» leben. Die Mutter wird zum Direktor zitiert, der ihr sagt, dass das aufhören müsse – und zwar sofort. Und dann hört Veronika einen Satz, der ihr Leben nachhaltig verändert: «Du sagst ab sofort nicht mehr, wer dein Vater ist!»
Veronika fühlt sich in ihrer kindlichen Welt völlig verunsichert. Was soll sie denn sagen, wenn jemand fragt – und was schreiben, wenn es im Aufsatz um ihre Ferien geht? Denn zu den schönen Sonntagen kommen auch schöne Ferien, die die kleine Familie regelmässig unternimmt. Sie fahren gemeinsam nach Rom, nach Österreich, in den Bayerischen Wald. Dann sitzen sie wie eine ganz normale Familie am Frühstückstisch, unternehmen Ausflüge und gehen abends bummeln.
Doch wenn der Urlaub vorbei ist, bedeutet das auch immer wieder das Ende des Familienlebens. Veronika muss wieder abtauchen in eine Welt aus Verleugnen und Vertuschen und spürt zunehmend die Ablehnung in ihrer Umgegend. «Im Dorf hat man meine Mutter und mich geschnitten», sagt sie. «Für alle war klar: Sie hat den Pfarrer verführt, es sind Begriffe wie ‹Pfaffenhure› und ‹Bankert vom Pfarrer› gefallen. Das tat schon weh.» Veronika darf in keinem Verein sein und wird mit fadenscheinigen Ausreden überall abgelehnt. «Schliesslich war ich am liebsten allein – im Wald. Dort konnte mir niemand wehtun», erinnert sie sich.
Der Konflikt und der Rückzug bleiben nicht folgenlos. Das Mädchen wird immer häufiger krank, leidet an Infekten und unerklärlichen Schmerzen. Der Arzt findet nichts Organisches. Eine Tante ihres Vaters hat eine Erklärung: Es sei «eine Strafe Gottes» – für Veronika eine Schockaussage!
Halt findet das Mädchen nur bei ihrer Mutter, einer starken Frau, die das Kind auch finanziell allein durchbringt. «Mein Vater hat ab und zu mal eingekauft. Das war’s!» Allmählich erfährt sie auch die Hintergründe: Die Mutter war mit ihrem ersten Mann, einem bekannten Heimatdichter, in einer Theaterspielgruppe. Nach seinem Tod hat sie Trost beim Pfarrer gesucht, woraus sich dann mehr entwickelte. Doch das Bistum erfährt davon und stellt ihn vor die Wahl: Familie oder Kirche? Er entscheidet sich für die Kirche und wird konsequenterweise von der Familie getrennt, arbeitet als Krankenhauspfarrer, zwei Stunden Autofahrt entfernt. Wenn Veronika ihn dort besucht, muss sie unbemerkt in seine Dienstwohnung schleichen. Sie realisiert traurig: «Mich durfte es gar nicht geben.» Als Folge hat sie immer mehr den Wunsch, einfach unsichtbar zu sein.
Um mit all dem klarzukommen, sieht sie nur einen Weg für sich: die Wahrheit. Sie ist ein Priesterkind und sagt es auch. Die Offenheit erleichtert sie. Und sie spürt, sie muss ihr Leben ändern. Sie verlässt das Gymnasium, wo sie sich immer ausgegrenzt fühlte, macht eine Ausbildung zur Kinderpflegerin, holt das Abitur nach und studiert in Passau. Wohnen kann sie im beschaulichen Schönberg in einem Haus am Hang, das der Vater kurz zuvor für die Familie gekauft hat.
Hier lebt Veronika mit ihrer Mutter und fühlt sich zum ersten Mal frei. Der Vater kommt weiterhin zu Besuch. «Aber das Ver-hältnis war mittlerweile distanziert, besonders meine Mutter hatte sich zurückgezogen. Es war innerlich zu viel zerstört.» Veronika baut auf ihrer Liebe zur Natur auf, arbeitet als Wanderführerin im Bayerischen Wald, macht ihren Abschluss in Tourismus-Management und geht in die Lokalpolitik. Der Vater hält immer den Kontakt. Sie telefonieren täglich, treffen sich ab und zu in München, sie besucht ihn auch an seinem Arbeitsplatz, wo jeder weiss, wer sie ist, es aber niemand ausspricht. 2019 stirbt ihr Vater überraschend in seiner Dienstwohnung, er hatte diverse Stürze hinter sich. Im Trauergottesdienst sitzt Veronika in der ersten Reihe und wird offiziell als Tochter angesprochen. Eine späte Genugtuung.
Heute, im Alter von 44 Jahren, blickt Veronika milde auf den Vater. «Er wollte beides – eine Familie, die er besuchen konnte, und das Amt, das er liebte. Wir mussten alle ein Doppelleben führen und alle einen hohen Preis bezahlen.» Heute geht sie in die Öffentlichkeit, um ein Zeichen gegen die Doppelmoral zu setzen. Veronika: «Das Tabu Priesterkind muss weg. Die Kirche muss sich endlich den
Realitäten stellen und hinsehen, was sie bei allen Betroffenen damit anrichtet.»