Marius Bear
Den Schutzpanzer abgelegt
Als Bub erfuhr der Sänger Mobbing, wurde dadurch zum verschlossenen Rebellen. Inzwischen steht er aber zu seinen Gefühlen – und will am ESC auch andere dazu ermutigen.
Im senfgelben VW-Bus braust Marius Bear (29) heran, schnappt sich die freie Parklücke und schlendert kurz darauf über den Landsgemeindeplatz in Appenzell – begleitet von Golden Retriever Georgie. «Er gehört einer Kollegin, ist sozusagen mein Stiefsohn», sagt er und lacht. Georgie helfe ihm, den Kopf freizubekommen. «Gerade jetzt kann ich das gut brauchen!»
Der Appenzeller aus Enggenhütten steckt mitten in den Vorbereitungen zum «Eurovision Song Contest 2022», wo er die Schweiz vertritt. Am 10. 5. (21 Uhr, SRF 1) will er im Halbfinale mit seiner Ballade «Boys Do Cry» überzeugen. Gelingt ihm das, steht er am 14. 5. (21 Uhr, SRF 1) auf der ESC-Bühne in Turin. «Ich freue mich auf die Momente, die ich dort erleben darf. Wir hatten wegen Corona eine lange Pause, und es ist schön, nun an so einem riesigen Event spielen zu dürfen», sagt Marius Hügli, wie er bürgerlich heisst, während er durch die Gassen Appenzells spaziert.
Immer wieder wird er dabei angehalten, zu seiner ESC-Teilnahme beglückwünscht. Verspürt er keinen Druck? Immerhin belegten seine Vorgänger Luca Hänni (27) und Gjon’s Tears (23) den sensationellen vierten und den dritten Platz. Bear: «Ein bisschen. Die beiden haben einen super Job gemacht.» Dennoch ist er von seinem Beitragslied, das auch Titel seines kürzlich erschienenen Albums ist, überzeugt. «Es ist ein Song, der aufzeigt, dass es schön ist, als Mann Gefühle zu zeigen.» Auch er selbst sei sehr emotional, trage keine Rüstung. «Ich musste aber erst lernen, dazu zu stehen.»
Vor allem die Kindheit war für Marius nicht immer einfach. «Einerseits wuchs ich in einer heilen Welt auf, von Lagerfeuer im Wald, spielen am Bach bis hin zu Töffli-Rennen – wir konnten alles machen, niemand hat uns auf die Finger geschaut», erinnert er sich. Andererseits musste er auch viel Schmerz ertragen: «Im Chindsgi bekam ich oft uf dä Deckel, weil ich anders war. Und als ich mit 60 Kilo in die erste Klasse kam, wurde ich gemobbt», verrät er und zeigt auf das Schulgebäude. Am schlimmsten traf ihn die Abfuhr eines Mädchens vor der ganzen Klasse, für das er geschwärmt hatte. «Danach habe ich drei Jahre lang gestottert, ehe ich in der Sek selbst zum Rebellen wurde.» Erst im Militär habe er zu seiner emotionalen Seite gefunden.
Die RS – Startplatz seiner musikalischen Karriere, die dem gelernten Baumaschinentechniker mit der unverkennbaren Stimme bereits einen Swiss Music Award einbrachte. Marius Bear erzählt: «Als Wachtmeister musste ich laut herumkommandieren, weshalb einem Kollegen meine raue Stimme auffiel und er mich zum Singen animierte.» Anfangs jedoch habe er sich geschämt, dies vor Leuten zu tun, die er kennt, «besonders im Appenzell. Wenn etwas passiert, weiss es das ganze Dorf», meint er und lacht. Deshalb reiste er mit der Gitarre im Gepäck nach Fribourg, wo er acht Monate als Strassenmusiker lebte, später nach New York und schliesslich nach London, um Musikproduktion zu studieren. «Erst als Corona kam, zog ich zurück in die Schweiz.»
Seither wohnt der «Remember Me»-Sänger in einer WG in St. Gallen. Ob sich Freunde und Familie nie Sorgen um seinen unbeständigen Lebensstil machten? Immerhin hätte er die Baumaschinenfirma seines Vaters übernehmen sollen. Marius: «Mein Dad arbeitete früher auf Containerschiffen, reiste viel.» Deshalb sei die Einstellung seiner Eltern gegenüber seinem Beruf sehr offen: «Für sie sind Reisen und dabei Lebenserfahrung zu sammeln die beste Schule. Als Künstler bin ich da ganz vorne mit dabei.»
Doch es gibt auch Schattenseiten im Leben als Musiker. Im letzten Herbst zerbrach die Beziehung zu seiner Freundin. Es sei schwierig, mit jemandem zusammen zu sein, der Künstler ist. «Es geht viel um einen selbst, und die Partnerin muss es aushalten können, im Hintergrund zu stehen. Das hat in meiner letzten Partnerschaft leider nicht funktioniert», erklärt Marius Bear. Eine neue Beziehung will er derzeit nicht – obwohl er von einer Familie «mit fünf Kindern» träumt. Aktuell sei aber so viel los, er müsse sich nun ganz auf seine Musik und den ESC fokussieren.
Wohin es ihn danach zieht, weiss er nicht. «Es kommt darauf an, wie die Sache ausgeht», sagt Marius Bear, während er Hund Georgie ins Auto lädt. «Wahrscheinlich gehe ich ins Ausland.» Sagt es, lächelt – und braust davon in seinem senfgelben VW-Bus.