Locked-in-Syndrom
«Ich bleibe trotzdem fest an seiner Seite»
Esthers Partner hat das sogenannte Locked-in-Syndrom. Doch sie verlässt ihn nicht und kümmert sich rührend um ihn.
Mehrmals in der Woche, wenn Sohn Tim (10) in der Schule ist, geht Esther (40) in ein nahegelegenes Pflegeheim. Dort ist ihr Freund Sascha untergebracht. Wenn sie das Zimmer betritt, strahlt er sie nicht an, sagt auch kein «Hallo, wie schön, dass du da bist». Sascha ist komplett gelähmt, kann sich nicht bewegen und nicht sprechen, auch nicht schlucken. Er leidet nach einem Hirn-Aneurysma an dem seltenen Locked-in-Syndrom. Der 42-Jährige ist zwar bei Bewusstsein, aber unfähig, sich sprachlich oder durch Bewegungen verständlich zu machen. Seine Augen sind dauerhaft geschlossen.
Esther und Sascha kennen sich seit der Schulzeit. Die beiden Deutschen waren in derselben Clique unterwegs und gute Freunde. Doch ihre Wege trennten sich schnell. Esther wurde Altenpflegerin, verliebte sich, wurde Mutter von Tochter Emma und Sohn Tim. Doch die Beziehung zum Vater der Kinder zerbrach. Von Sascha hörte sie unregelmässig. Sie schrieben sich ab und zu über Facebook. «Ich wusste aber, dass er nach einem schweren Autounfall nicht mehr in seinem Beruf als Bauzeichner arbeiten konnte und sehr darunter litt.» Esther wollte ihn trösten. Sie verabredeten sich zum Pizzaessen, und dabei funkte es plötzlich. «Das war wie in dem Hit ‹Tausendmal berührt›», erzählt sie und strahlt. «Wir kannten uns so lange, und auf einmal waren Gefühle da, die wir nie erwartet hätten. Wir waren beide Singles, haben uns Hals über Kopf ineinander verliebt.»
In den folgenden zwei Jahren genoss Esther jeden Tag mit ihrer grossen Liebe. Sie mochte sein einfühlsames Wesen, die offene Art, mit der er auf ihre Kinder zuging, und seinen Humor. «Mit ihm kam die Fröhlichkeit in mein Leben zurück», erinnert sich Esther. «Es war wunderschön.» Sie wollten zusammenziehen, malten sich die Hochzeit aus. An ihrem letzten gemeinsamen Abend wurde es ganz konkret. «Wir sassen auf dem Sofa, und Sascha fragte mich: ‹Gehst du den Rest des Lebens mit mir?›, und ich habe geantwortet: ‹Ich gehe jeden Weg mit dir!›» Es war dieser Satz, dieses Versprechen, das sie die Katastrophe durchstehen liess, die plötzlich in ihr Leben kam.
Denn Sascha fühlte sich am folgenden Tag unwohl, ging hilfesuchend zu seinem Vermieter ins Erdgeschoss und bat ihn, einen Krankenwagen zu rufen. In dem Moment verlor er sein Bewusstsein. Als Esther informiert wurde und in die Klinik raste, war es bereits zu spät. Das Gehirn war wegen des Aneurysmas schon zu geschädigt. «Ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Es war grausam!»
Vier Monate später verlegte man Sascha in die Intensivpflege. Esther blieb nach wie vor an seiner Seite. «Ich gehe jeden Weg mit dir, das habe ich ihm versprochen und halte es auch», sagt sie tapfer. Sie las im Internet, was Betroffenen guttut, massierte deshalb seine Hände und Arme, summte ihm dabei ihr gemeinsames Lieblingslied vor: «I hob di so liab» von Andreas Gabalier. Sie fuhr Sascha regelmässig im Rollstuhl spazieren, organisierte im Garten Familienfeste, nahm ihn sogar mit an ein Rockkonzert. Was er alles davon mitbekommt, kann sie nicht sagen. «Das weiss niemand», sagt sie. «Aber ich glaube: alles!» Deshalb erzählt sie ihm immer, was die Freunde und die Familie machen. Sie behauptet steif und fest, dass manchmal der Hauch eines Lächelns über sein Gesicht huscht. «Anfangs haben mich alle belächelt, wenn ich davon erzählt habe. Heute stimmen mir aber viele auch zu.»
Glaubt sie an eine Besserung? Esther lächelt: «Die Ärzte sagen Nein. Aber ich sage, was Sascha immer gesagt hat: Wer aufgibt, hat verloren.» Und so geht sie weiterhin ins Pflegeheim zu dem Mann, dem sie fest versprochen hat, überall mit ihm hinzugehen.