Verstossen von der eigenen Tochter
Mutter Claudia ist am Boden zerstört. Ihr Kind Marianne will plötzlich nichts mehr von ihr wissen − aus bisher völlig ungeklärten Gründen.
«Tschüss Mama, bis morgen!» Die Leipziger Krankenschwester Claudia (55) weiss nicht, wie oft sie diesen Satz in Gedanken schon gehört hat. Dazu sieht sie immer dieselben Bilder. Ihre Tochter Marianne (34) lächelt sie liebevoll an und winkt ihr, bevor sie in den Bus einsteigt. Die Mutter ahnt nicht, dass sie ihr geliebtes Kind nicht wiedersehen wird.
Es ist Sommer 2011, und Claudia hat gerade mit ihrer einzigen Tochter eine Haushaltsgüter-Messe besucht. «Bis heute habe ich nichts mehr von ihr gehört», sagt die Mutter traurig, die offensichtlich von der eigenen Tochter verstossen wurde.
Rückblick: Claudia heiratet 1987 den gleichaltrigen Marcel, ein Jahr später kommt Wunschkind Marianne zur Welt. «Unser ganzer Alltag drehte sich um sie.» Als das Mädchen 15 Jahre alt ist, zerbricht jedoch die Beziehung der Eltern. Das Paar hat sich auseinandergelebt, er hat andere Frauen. Claudia zieht aus.
Nach der Trennung von ihrem Mann kühlt sich das Verhältnis zur Tochter ab. Marianne möchte beim Vater bleiben und nicht aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen werden. Marcel will sie auf seine Seite ziehen, sagt, dass Claudia alleine schuld am Scheitern der Beziehung sei.
Das bricht der Mutter fast das Herz, sie sucht Hilfe bei einem Psychologen. Der Fachmann macht ihr Mut. Sie solle abwarten, sich weiterhin beharrlich um ihr Kind bemühen. Claudia ruft regelmässig an, schreibt SMS, schickt Geschenke. Nach und nach kittet sich so die Beziehung. Sie unternehmen wieder mehr zusammen. Und nicht nur das: Sie werden wie Freundinnen, gehen zusammen aus und verbringen die Ferien miteinander.
«Tschüss Mama, bis morgen!» Deshalb zweifelt Claudia an diesem Sommerabend keine Sekunde daran, dass es dieses Morgen geben wird. Doch plötzlich ist Marianne nicht mehr erreichbar. Sie geht einfach nicht mehr ans Telefon, und wenn doch, legt sie wortlos den Hörer auf. Geschenke kommen ungeöffnet zurück. Wenn die Mutter in ihrer Not Marcel oder Freundinnen fragt, dürfen die ihr nicht sagen, was los ist. Warum? Claudia schüttelt den Kopf: «Ich weiss es nicht. Ich möchte gerne mit ihr sprechen. Aber sie will das nicht. Sie hat mich einfach aus dem Leben gekickt, mich wie ein altes Kleid entsorgt.»
Die erste Zeit ist derart quälend, dass Claudia kaum Kraft hat zu arbeiten. Sie igelt sich wochenlang in ihren vier Wänden ein und weint sich die Verzweiflung vom Herzen. Auch die Zeit heilt diese Wunde nicht, lindert aber den Schmerz. Nach und nach versucht Claudia, wieder den Weg zurück ins Leben zu finden. Bei Freunden findet sie Zuhörer, kann sich immer wieder alles von der Seele reden. Heute ist die Wunde «verkrustet», wie Claudia gern sagt. «Ich vermisse meine Tochter in jeder Sekunde, träume nachts davon, sie endlich in meine Arme schliessen zu können.»
Kürzlich hat sie gehört, dass Marianne geheiratet hat, mit ihrem Mann irgendwo in Sachsen lebt. «Ich habe sehr geweint, war aber auch erleichtert, weil ich jetzt weiss, dass es ihr gut geht.»