«Wer will schon einen Arbeiter mit nur einer Hand?»
Das Schicksal war unbarmherzig: Mit nur 22 Jahren starb seine Frau an Krebs, und bei einem Unfall verlor er einen Unterarm. Um Geld zu verdienen, ging der Bulgare in den Westen. Ein Leben auf der Strasse − bis er in Bern eine neue Heimat fand.
«Aufmachen! Polizei!» Slavcho Slavov schreckt aus dem Schlaf auf. «Was ist los?» Aber schon splittert die Tür, und Bewaffnete stürmen ins Zimmer. «Keine Bewegung!» Cannes, März 2011. «Was wollt ihr von mir?», fragt er. «Das erfährst du auf dem Revier», herrscht ihn einer der Polizisten an und will ihm Handschellen anlegen. Doch die rutschen ab. «Da merkte er endlich, dass mir der linke Unterarm fehlt!» Auf dem Revier stellt sich heraus, dass der 49-Jährige zu Unrecht eines Mordversuchs verdächtigt wurde.
Eine Episode aus dem Leben eines vom Schicksal gebeutelten Mannes. Slavo, wie er gerufen wird, heiratete mit 19 Jahren im bulgarischen Dimitrowgrad seine Wanja. Die Kinder Kostadin und Neli kamen zur Welt. Doch das Glück der jungen Familie wurde jäh zerstört: Seine Frau starb mit nur 22 Jahren an Krebs. Zwei Jahre später verlor er bei einem Autounfall seinen linken Unterarm. Die vergebliche Suche nach Arbeit machte ihm zu schaffen. «Wer stellt schon einen Arbeiter mit nur einer Hand ein?», lächelt er bitter. «Wenn du in Bulgarien Invalider oder Rentner bist, gehst du am besten gleich zum Friedhof.»
Um seine inzwischen 16 und 14 Jahre alten Kinder zu ernähren, liess er sie in der Obhut seiner Mutter, fuhr 2005 auf der Suche nach Arbeit nach Italien. In Venedig fertigte er aus ein paar Kartons Schablonen an, wurde Strassenmaler und verdiente so seine ersten Euros.
Aus der Suche nach Verdienstmöglichkeiten wurde eine Odyssee quer durch Europa. Slavo malte Strassenbilder und verdiente damit meist genug, um davon leben zu können. Ging ihm mal das Geld aus, verlegte er sich auf das Betteln. «Wenn man ein Leben auf der Strasse führt, ist es egal, ob man als Maler, Musiker oder Bettler tätig ist.» Er schlief im Freien, wohnte in Abbruchhäusern oder bei Freunden. «Trotz einigen persönlichen oder finanziellen Schwierigkeiten – eine endgültige Rückkehr nach Bulgarien kam nicht in Frage. Lieber wollte ich in Europa auf der Strasse leben als in meinem Heimatland, in dem ich keine Chancen habe.» Ein bis zwei Mal pro Jahr besucht er seine Familie, die er finanziell unterstützt. Seine Kinder sind inzwischen erwachsen und gründeten eigene Familien.
Als Slavo 2010 im französischen Pilgerort Lourdes als Strassenmaler arbeitete, bekam er einen Hundewelpen geschenkt. Er schloss den Wollknäuel ins Herz und gab ihm den Namen Lourd. Später rettete Slavo den Kater Matz aus dem Bauschutt eines abgebrochenen Hauses. Das Trio wurde unzertrennlich und reiste gemeinsam umher.
Im Juli 2009 traf Slavo in Nizza Norman, der sein Leben verändern sollte. Der Künstler brachte ihm neue Maltechniken bei und trug entscheidend zu seinen Erfolgen als Maler bei.
2011 kam er zum ersten Mal nach Bern. Er war von der Stadt beeindruckt. Dann zog er aber wieder in den Süden, weil in Bern Strassenmaler nicht geduldet werden. Doch die schmucke Stadt ging ihm nicht aus dem Sinn. So kam er im gleichen Jahr zurück, lernte die drogensüchtige Marfi kennen. «Nach Jahren ohne Zuhause war Marfis Wohnung für mich wie ein Paradies.» Doch ihre Drogensucht belastete die Beziehung, und so zog Slavo, der nie Drogen konsumiert hat, 2013 in eine eigene Wohnung. «In Bern fand ich alles, wovon ich immer geträumt hatte. Und ich machte viele Bekanntschaften.» Dank der Hilfe guter Freunde, einem festen Wohnsitz und seinem Beruf als Künstler bekam er eine Aufenthaltsbewilligung für fünf Jahre.
Zwei engen Freunden, Anne und Ralph, erzählte er von seinem Leben auf der Strasse. Sie ermunterten ihn, darüber ein Buch zu schreiben und fanden auch einen Verlag. Inzwischen hat er drei Bücher verfasst, die sich gut verkaufen, auch seine Bilder finden Anklang.
2018 ein weiterer Schicksalsschlag: Matz stirbt. Erst nach über einem Jahr der Trauer nimmt er wieder eine Katze zu sich – eine Maine-Coon und tauft sie auf den Namen Matzeroni. «Bern ist meine zweite Heimat geworden. Hier möchte ich bleiben», schwärmt Slavo. Auch über die Schweizer ist er des Lobes voll: «Die meisten sind aufrechte Menschen, auf die man sich verlassen kann.»
Slavo ist ein Optimist und liebt die Menschen. «Ich bin kein Kirchgänger, glaube aber an einen Gott. Und ich befolge die zehn biblischen Gebote. Wenn das alle täten, ginge es der Menschheit viel besser.»