Weitermachen oder noch mal ausbrechen?
Entscheidung zwischen Vernunft und Sehnsucht
Die Zürcherin Sylvia stand nach dem Ende ihrer Ehe vor der Frage: einfach so weitermachen oder noch einmal ausbrechen, etwas wagen?
Sie liebt den ewig blauen Himmel, die Blütenmeere, den Duft frischer Minze, die märchenhaften Paläste und das quirlige Leben in der Stadt.
«Marrakesch weckt meine Lebenslust jeden Tag aufs Neue. Hier werden ständig alle Sinne angeregt», schwärmt Sylvia Zhiba (63) aus Zürich. So selbstverständlich bummelt sie durch die Gassen der marokkanischen Metropole, als hätte sie nie woanders gelebt. Die Händler begrüssen «Madame Sylvia» per Handschlag, reichen ihr frische Gewürze zum Kosten, zeigen ihr die neuesten Produkte und wie man Nüsse röstet und Fladenbrot backt. «Ich werde hier akzeptiert und fühle mich pudelwohl.»
In ihrem Lebensplan stand nicht geschrieben, dass sie mal in Marokko leben und dort ein Gästehaus führen sollte. Diese wilde Fahrt des Schicksals verdankt sie einem ehemaligen Patienten, der sich Sorgen um sie machte.
Rückblick: Es ist das Jahr 2000. Sylvia Zhiba hat sich in Zürich gerade mit einer Praxis für alternative Heilmethoden und medizinische Massagen selbständig gemacht, als ihre Ehe zerbricht. Jahrelang arbeitet sie bis zur Erschöpfung, lässt sich keinen Raum für Entspannung.
Ein Patient, gebürtiger Marokkaner und Inhaber eines kleinen Reisebüros, bietet ihr spontan an, eine Frauentour durch sein Heimatland zu organisieren, «damit ich mal aus allem herauskomme. Ich war total baff». Eine unglaubliche Idee! «Du kannst unmöglich die Praxis schliessen. Und du hast keine Erfahrung als Reiseleiterin», meldete die Stimme der Vernunft. «Einmal die Königsstädte sehen, durch den Atlas reisen, durch die verwinkelten Gassen von Marrakesch schlendern … Das muss herrlich sein», flüsterte die Sehnsucht.
«Ich steckte damals in einem Lebensabschnitt, in dem man sich entscheiden muss: weitermachen oder noch mal ausbrechen, etwas wagen», erklärt Sylvia Zhiba. Sie ist single, die Tochter erwachsen, die Eltern noch fit. Worauf warten, wenn das Abenteuer ruft?
Sylvia verschlingt Bücher, stellt eine Rundfahrt «mit weiblichem Blick» zusammen und geht Ende 2004 mit zwölf Frauen auf Tour. Sie geniesst es, mit dem Minibus durchs Land zu fahren – und dieses andere Leben, bei dem jeder Tag neu und faszinierend ist. Zurück in Zürich fühlt sie sich fast wie eingesperrt. «Ich konnte es kaum erwarten, wieder auf Tour zu gehen, und fühlte mich vom Abenteuer regelrecht beflügelt. Es war, als hätte man mich auf ein neues Gleis gesetzt. Ich hatte Freude am Tempo, obwohl ich das Ziel damals noch gar nicht kannte», erzählt sie.
Auf einer ihrer Reisen entdeckt sie dann das kleine Altstadthaus direkt an der Stadtmauer von Marrakesch, zwischen zwei Königspalästen, mit herrlichem Blick auf den hohen Atlas. Der ideale Ort für ein Gästehaus! Tochter, Mutter und Freunde sind entschieden gegen das Abenteuer Orient. Sicher, es braucht Mut, doch Sylvia traut sich zu, in diesem fremden Land als Frau ein Geschäft zu führen. Sie kennt inzwischen genug Einheimische, die ihr helfen wollen. Vom Verkauf ihrer Praxis und vom Ersparten kann sie die Renovierung finanzieren. Und sie weiss, dass die Zeit drängt. «Ich war Anfang 50 und konnte nicht ständig zwischen zwei Kulturen pendeln.» Sie habe auf ihren Bauch gehört, der sagte: «Geh, es ist alles gut!»
Der Bauch hat recht behalten. Ihr Gästehaus «Riad Basim» läuft von Anfang an fabelhaft. Auch privat schwebt Sylvia auf Wolke sieben – mit Mohammed (54), der ein kleines Reiseunternehmen betreibt. Liebe auf den ersten Blick! «Ich spürte sofort: Das ist der Mann, mit dem ich alt werden möchte. Er ist ungeheuer einfühlsam, kann zuhören und unterstützt mich in allem, was ich tue.» Dass sie aus unterschiedlichen Kulturen kommen, war nie ein Problem.
Einen Monat im Jahr verbringt Sylvia in der Schweiz, freut sich aber immer zurückzukommen. Denn die Gerüche, der Lärm, der Zauber aus 1001 Nacht fehlen ihr. «Das Leben hat mich an diesen Ort gespült. Ich habe eine Chance bekommen und sie genutzt.»