Stressforscher
«Es braucht Stresskliniken»
Der Zustand der belastenden Anspannung ist eine natürliche Reaktion des Menschen auf ausserordentliche Impulse. Hält er aber zu lange an, kann er auch krank machen. Renommierte Stressforscher haben deshalb ein Schweizer Netzwerk gegründet.
Stresssituationen kennen wir alle. Halten sie zu lange an, kann die körperliche oder seelische Belastung chronisch werden und uns nachhaltig schaden. Renommierte Stressforscher aus der ganzen Schweiz haben ein neues Netzwerk gegründet, um dem allgegenwärtigen Thema auch in der öffentlichen Diskussion mehr Gewicht zu verleihen. Dies mit dem Ziel, Stressbetroffenen künftig besser zu helfen. Carmen Sandi, Professorin an der ETH Lausanne und Mitgründerin von Stressnetwork.ch, gibt Auskunft.
GlücksPost: Wann und warum haben Sie «stressnetwork.ch» gegründet?
Carmen Sandi: Ich habe das Netzwerk zusammen mit Professor Dominique de Quervain von der Universität Basel im letzten Jahr lanciert. Es umfasst mehr als 30 Forschungslabore prominenter Wissenschaftler in der Schweiz, die in der Stressforschung tätig sind. Unser Ziel: Wir wollen die Öffentlichkeit und Politik für die Bedeutung der Stressforschung sensibilisieren, diese weiterentwickeln und damit Mehrwerte für Stressbetroffene schaffen.
Welches sind die Hauptgründe und Folgen von Stress?
Stress ist eine normale Reaktion unseres Körpers. Wenn ein Stressfaktor, psychisch oder physisch, unser inneres Gleichgewicht stört, setzen wir zuerst Adrenalin frei. Die Folgen sind eine erhöhte Herzfrequenz oder ein steigender Blutdruck. Danach mobilisiert unser Körper automatisch Energie, um das aufgerüttelte Herzkreislauf- sowie Immunsystem möglichst wieder ins Lot zu bringen.
Was bringt uns Stress?
Stress hat schon den ersten Menschen ermöglicht, auf eine Bedrohung zu reagieren und zu überleben, indem sie kämpften oder flohen. Heute sind wir seltener mit einer Lebensgefahr konfrontiert. Aber das Prinzip ist gleich. Stress hilft, unsere Aufmerksamkeit auf eine Prüfung zu richten oder in einem Sportwettkampf mehr Energien freizusetzen.
Wann wird Stress zur Bedrohung für uns selbst?
Wenn Stress zu intensiv ist, kann er uns lähmen. Hält er zu lange an oder wird chronisch, ermüdet unser Körper irgendwann, weil er ständig Energie mobilisieren muss, um in seinen ursprünglichen Gleichgewichtszustand zurückzukehren.
Sind Krankheiten die Folge?
Grundsätzlich ist Stress nicht schädlich. Im Normalfall werden die beschriebenen Reaktionen gestoppt, sobald der Stressfaktor verschwindet. Aber eben: Wird es zu heftig, kann dies negative Folgen für Psyche und Körper haben und den Ausbruch von Krankheiten wie Depressionen oder Herz-Kreislauf-Krankheiten begünstigen.
Kann man den eigenen Stress besser verstehen lernen und Lösungen finden, um dagegen anzukämpfen?
Viele Forschungslabors weltweit entwickeln Techniken zur Analyse des Belastungsniveaus. Dazu gehört unter anderem auch die Analyse von Stresshormonen aus Speichel- oder Blutproben. Wir meinen, dass es in Zukunft Stresskliniken braucht, wo Menschen eine detaillierte Diagnose ihres Stressleidens erhalten. Wir von Stressnetwork.ch wollen auch dazu beitragen, dass öffentliche Veranstaltungen organisiert werden, wo Menschen ihre körperlichen und psychischen Reaktionen auf Stress testen können. Sie sollen aufgeklärt werden, welche Lösungen für ihr Problem derzeit verfügbar sind und wo die Forschung in der Entwicklung neuer Lösungen steht.
Wo steht die Stressforschung nun?
Es ist vieles in Bewegung. Viele Forschungsbereiche, die sich mit den Auswirkungen von Stress und seinen biologischen Mechanismen befassen, profitieren von den jüngsten bemerkenswerten technischen Entwicklungen. Ein Beispiel ist etwa der zunehmende Einsatz von Virtual-Reality-Methoden zur Verringerung von stressbedingten Störungen wie Phobien oder posttraumatischen Belastungsstörungen.
Weitere Infos: www.stressnetwork.ch