Wie aus tiefer Dankbarkeit wertvolle Mitarbeit wächst
Akademiker und obdachlos? Das gebe es doch nicht, mag sich manch einer denken. Gibt es sehr wohl. Karl ist einer von ihnen. In einer Lebenskrise sah er keine andere Möglichkeit mehr, als auf die Strasse zu fliehen, und beweist: Obdachlosigkeit kann jeden treffen.
Wer Karl (56, Name geändert) begegnet, sieht ihm nicht an, dass er seit drei Jahren obdachlos ist. Seine Kleider sind zwar nicht der Mode letzter Schrei, aber durchaus ansehnlich. Seine Haare hat ihm eine Bekannte vor kurzem akkurat gestutzt. «Sie hat solange ‹gemüedet›, bis ich einwilligte – damit sie endlich Ruhe gibt», sagt Karl augenzwinkernd. Im Gespräch erweist er sich als humorvoll, vielseitig interessiert und sehr belesen. Das kommt nicht von ungefähr. Der gebürtige Berner ist studierter Geisteswissenschaftler, referierte an einer Schweizer Universität und verfasste wissenschaftliche Publikationen. Im Militär machte er nach der RS weiter. Als Offizier blieb der Bilingue dem damaligen EMD (heute VBS) bis zu seiner altersbedingten Ausmusterung als Milizmitarbeiter erhalten. Daneben verdiente Karl sein Brot als Mitarbeiter im Stundenlohn im Dienstleistungssektor.
Damit hängt auch seine Tragödie zusammen. Nach einem Generationenwechsel an der Spitze jenes Unternehmens, in welchem er während vieler Jahre arbeitete, setzte die Firma den altgedienten Mitarbeiter immer weniger ein. «Weil mir Geld nie viel bedeutete, hatte ich auch keine Existenzängste», blickt Karl zurück. Er habe halt einfach noch ein bisschen bescheidener gelebt.
Als aber die Aufträge versiegten, ging es nicht mehr. Dass die Firma künftig ganz auf seine Dienste verzichten wolle, erfuhr Karl zufällig von einem Büroangestellten. «Das traf mich, der ich während Jahren ein treuer Mitarbeiter war, sehr», sagt er. In diesem Moment blitzt Verbitterung auf. Weil sein letzter versicherter Verdienst quasi null war, erhielt er auch kein existenzsicherndes Arbeitslosengeld.
Karl musste zum Sozialamt. Dort hätten ihn die Sozialarbeiter wie eine Nummer behandelt, sagt er. «Es war erniedrigend. Ich wollte mich nicht von Sozialarbeitern bevormunden lassen, die sich nicht für mich als Menschen interessieren, sondern bloss als Fall.» So floh er auf die Strasse. Noch immer ist er bisweilen obdachlos. Dann, wenn er nicht gerade bei Freunden Unterschlupf findet. Es macht ihm nichts aus. Er hat sich für den Moment mit seiner Situation arrangiert.
«Der Vergangenheit trauere ich nicht nach, auch wenn ich Sehnsüchte habe», sagt Karl. Am meisten vermisse er seine Bücher und die intellektuelle Herausforderung. Andere Herausforderungen hat er gefunden: So arbeitet er heute als Allrounder überall dort beim Sozialwerk von Pfarrer Sieber (SWS) mit, wo Not am Mann ist – als Mitarbeiter bei der Lebensmittelverteilung an Bedürftige, bei Umzügen und Transporten oder bei Umgebungsarbeiten. Mit dem bisschen Taschengeld kauft er sich, was er braucht.
Für viele Gassenleute ist Karl eine Vertrauensperson. Und für die SWS-Mitarbeitenden ein verlässlicher Mitarbeiter, der ein gutes Gespür dafür hat, welche Hilfesuchenden Hilfe am nötigsten haben. «Es sind fast immer die Bescheidenen und nicht die Klagenden», sagt Karl. Obschon er Sozialarbeitern gegenüber misstrauisch ist, schätzt er die meisten SWS-Mitarbeiter. Und Pfarrer Sieber (†). «Ich bin zwar Atheist», sagt Karl, «aber Pfarrer Sieber hat meinen Respekt, weil er ein herausfordernder Gesprächspartner war und nicht einfach theologische Phrasen drosch.»
Wie es mit ihm weitergeht, weiss er nicht. Vorderhand nimmt er es, wie es kommt. Und lässt seinen Sehnsüchten jenen Raum, den sie brauchen, um vielleicht eines Tages doch noch Realität zu werden.
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