Anita Mosimann
«Kleine Dinge werden wertvoll»
Eine Nervenkrankheit hat das Leben der Emmentaler Bäuerin verändert. Darum ist ihre Teilnahme bei der «Landfrauenküche» so wichtig für sie.
«Alte Hütte» nennt Aschi Mosimann das stattliche Bauernhaus, vor dem seine Frau posiert. Wer Gotthelf-Verfilmungen liebt, konkret: «Geld und Geist» (1964), erkennt das Anwesen gleich wieder. «Hier wurde eine Szene gedreht und da auch», erzählt Anita Mosimann auf dem Weg in die Küche, läuft an einem Gestell voller Kuhglocken vorbei – Auszeichnungen für prämierte Tiere.
Rund 30 Milchkühe und circa 50 Aufzuchttiere, davon etwa 25 Kälbchen, hat es auf dem Hof, das bedeutet viel Arbeit. Sobald er seinen Gaffee getrunken hat, verschwindet Aschi. «Ferien kennen wir nicht», sagt Anita. Mal paar Tage verreisen, mehr liegt nicht drin. In der Schweiz. «Ich brauche das Meer nicht. Ich hab’s einmal gesehen – das het grad glängt.»
Schattenseiten, jaja, die hat so ein Leben, sicher. «Wenn spätabends noch eine kalbern will, kalbert sie eben bis drei, vier Uhr.» Und wenn der Nebel über den Feldern hängt und man nicht mal die Bäume vor dem Hof sieht, fällt auch dieser fröhlichen Frau die Decke auf den Gring. «Vor allem, wenn der Vater anruft und erzählt, wie blau der Himmel in Grindelwald ist», lacht die 45-Jährige. So, nun wolle sie aber über die schönen Seiten ihres Lebens reden. Die überwiegen nämlich.
«Der Mann hatte auch was vom Kind, er kam nicht erst heim, wenn Simon im Bett war. Wir durften miteinander als Familie aufwachsen. Wir sehen Rehe, Igel, Marder und allerlei Tiere hier. Und kein Chef sagt: ‹Jetzt musst du!›» Das alles sei viel mehr wert, «ich möchte nichts anderes». Anita blickt nach draussen, wo Aschis Nymphensittiche zwitschern.
Jetzt, wo der Sohn ausser Haus eine Bauernlehre macht, sind sie nur noch zu zweit, stundenweise packt ein Angestellter mit an. «Ich kann dem Mann nicht mehr helfen.» Der Rücken plagte sie schon lange, doch auch die Beine trugen sie nicht mehr. «Ich konnte nicht mehr über die Felder laufen.» Vor fünf Jahren ging sie endlich zum Arzt. Erste Diagnose: Borreliose. Doch es kam noch schlimmer: multiple Sklerose.
«Damals ging’s mir noch besser, heute muss ich alles kontrolliert machen.» Unebene Böden meidet sie, viele Dinge gehen nicht mehr. Den Garten hat sie aufgegeben, auch das mit dem Modeschmuck, sie kann den Stall nicht mehr allein machen, keine Äpfel ablesen. Wenn sie Berichte von Viehschauen sieht, statt wie früher hinzufahren, denkt sie oft: «Das wird i myr Läbtig nümm chönne. Aber ich hadere nicht, bin ein positiver Mensch und schaue nach vorn. Was vorbei ist, ist vorbei.»
So nimmt sie vor dem Heuen eben Schmerzmittel, kriecht sie manchmal auf allen Vieren die Treppe zum Schlafzimmer rauf. «Aber ich komme hoch!» Sie lacht. «Ich muss mich arrangieren, sägen i gäng. Wir alle haben uns irgendwie arrangiert.» Zwischendurch müsse sie «einfach abhocken», überall stehen Sitzgelegenheiten rum. «Man lernt, das Leben anders anzuschauen, kleine Dinge werden wertvoll.» Ein kleiner Sieg sei auch die Teilnahme bei der «Landfrauenküche». Mit einem Ziel vor Augen kann sie zwischendurch das eine oder andere vergessen. «Das hat mir so gut getan», sinniert sie. Aber man solle bitte nicht nur über die Krankheit schreiben, denn wie gesagt, sie hadere nicht.
Aschi setzt sich auf einen Eierkirsch wieder dazu. Etwas reden übers Leben, den Sohn, der so viel Freude macht. Beim Hinausgehen deutet Anita auf ihre Skis. «Die kann ich noch nicht wegräumen.» Vor zwei Jahren stand sie letztmals drauf. Und, was wünscht sie sich für die Zukunft? «Losgehen, ohne jeden Schritt überlegen zu müssen – das wäre schön.»