«Mein Sohn fühlt keinen Schmerz»
Ob er sich den Kopf anschlägt, das Bein bricht oder sich in die Finger beisst, bis sie bluten: Der dreijährige Bub spürt absolut nichts davon und ist deshalb ständig in grosser Gefahr.
Es war ein angenehmer Sommertag, den die Engländerin Lindsay Cahill (34) mit ihrem Mann Tom (35) und Sohn Dexter (damals 23 Monate) im Garten verbrachte. Mit dabei war auch Gottenmeitli Suki (7). Der Bub planschte die ganze Zeit im kleinen Pool. Suki hielt ihren Zeh ins Wasser und rannte zu Lindsay, um ihr zu sagen, wie eiskalt das Wasser sei. Die Mutter holte ihren Sohn sofort aus dem Becken. Seine Körpertemperatur war unter 33 Grad gesunken.
Dexters Unfähigkeit, warm und kalt zu unterscheiden, wurde lange nicht entdeckt. Er biss sich auch in die Finger, bis sie bluteten, oder kaute an seiner Zunge, bis sie anschwoll. Schmerzen schien er keine zu kennen, und er weinte nie. Die Eltern sind immer in Sorge, denn Dexter ist in ständiger Gefahr.
Im April 2015 stand dann nach vielen Untersuchungen endlich fest, dass Dexter unter einer sehr seltenen, unheilbaren Störung leidet, deren Gene die Eltern in sich tragen. Er fühlt weder die Anwesenheit noch die Intensität von Schmerzen. Das kann schlimme Folgen haben. «Wenn er dereinst einmal an einer Blinddarmentzündung leidet oder einen Herzinfarkt bekommt, wird er davon nichts merken», sagt die Mutter.
Erst vor Kurzem stürzte er, als er wild mit seinen Freunden getanzt hatte. Dabei brach er sich das linke Bein. Er wirbelte weiter, weil er nichts spürte. Zum Glück wurde die Spielgruppenleiterin, die über die Störung informiert war, aufmerksam und benachrichtigte die Mutter. «Ich raste im Auto zu meinem Sohn und erwartete, dass er tränenüberströmt war. Doch er sass ganz vergnügt auf dem Boden und begrüsste mich, als sei nichts geschehen.» Jeder «normale» Patient hätte Morphin gegen die Schmerzen bekommen. Dexter dagegen fragte, ob er einen Lollipop haben dürfe. Daheim hätte der Bub das Bein ruhig halten sollen, um die Heilung nicht zu gefährden. Doch er tobte trotzdem herum, die Heilung verzögerte sich.
Seit Dexter zwei Jahre alt wurde, versteht er besser, worunter er leidet und was es bedeutet. Seither hat er aber auch eine Eigenart entwickelt. Wenn er seinen Willen nicht durchsetzen kann, verletzt er sich absichtlich. «So schlug er zuletzt extra seinen Kopf gegen unser Auto. Er bekam eine grosse Beule und seine Lippen platzten. Und all das, weil er nicht die gewünschten Süssigkeiten bekam», erzählt Lindsay.
Der Junge ist mittlerweile drei Jahre alt. Die Mutter kann nun mit ihm argumentieren. «Dexter, was du tust, wird dir nicht wehtun, aber mir», sagt sie, wenn er sie wieder zu «erpressen» versucht. Er kennt nicht den Unterschied zwischen heissem und kaltem Essen, zwischen Glace und Suppe. Jeden Morgen sucht Lindsay ihn nach möglichen Verletzungen ab, nach Brüchen, nach Bisswunden. Sorgen bereitet ihr die Zukunft. «Wenn er in die Schule kommt, kann ich ihn nicht mehr so schützen wie heute. Wer passt dann auf ihn auf?» Denn eines steht fest: Dexters Leiden wird ihn das ganze Leben lang begleiten!