Vico Torriani (†)
So wurde er als Verdingbub gequält
Niemand sollte von seinen Leidensjahren erfahren. Vergangene Woche berichtete die GlücksPost über die traurige Jugend des Stars und sein eisernes Schweigen. Nun redet ein Zeitzeuge.
Franz Stöckli (87) aus Oberrüti im Kanton Aargau ist als Bauernbub auf dem Grundstück unterhalb des Hauses Krummenacher im Freiamt aufgewachsen. Dort, wo Vico Torriani und seine Schwester Sonia seit September 1929 als Verdingkinder lebten.
Die Witwe Krummenacher hatte die Kinder aufgenommen, damit sie für diese Kostgeld bekam. Denn sie hatte selber nichts. Das wenige Geld, das sie auf dem Luzerner Markt mit ihrem Gemüse verdiente, war zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben. Oft kam es vor, dass die zwei Kinder bei den Nachbarn um Essen betteln mussten, um ihre hungrigen Mägen zu füllen, weil es zu Hause schlicht nichts gab für sie.
«Die Kinder wuchsen asozial auf», weiss Franz Stöckli. «Dass Vico Koch und Bäcker gelernt haben soll, wie er es seiner Familie erzählte, stimmt nicht. Aber er war ein aufgeweckter Cheib.» Ein vifer, sprachgewandter Junge sei er gewesen und seinen Kollegen in fast allem voraus und überlegen. «Vico lernte Handorgel spielen und trat damit in den Restaurants auf. Schon damals war er ein Charmeur, der mit seiner Art den Menschen an den Tischen Trinkgeld abluchste. Deshalb hatte er immer etwas Geld im Sack.» Franz Stöckli erinnert sich, als er ein kleiner Bub war, dass Vico an der Fasnacht jeweils auf dem Sodbrunnen des Dorfes sass und die Oberütener mit seiner Handorgel unterhielt. Das reizte die eingesessene Dorfjugend im Freiamt. Für sie war er nur das Verdingkind, ein «fremder Fötzel». Erst recht hassten sie, dass sie von diesem Aussenseiter ausgespielt wurden.
Eines Mittwochnachmittags, man hatte schulfrei und musste um 14 Uhr zum Religionsunterricht, schlugen die Bauernrüpel zu. «Es schlug zwei», erzählt Franz Stöckli. «Der Pfarrer bemerkte, dass einer fehlte: Vico. Er fragte, wo dieser denn sei. Stille! Da lachte der Anführer: ‹Der hängt draussen.› Dessen Kollegen in der Kirche johlten und grölten. Der Pfarrer schaute nach. Und da draussen hing tatsächlich Vico, an den Füssen aufgehängt, am Reck. Es war pure Eifersucht, weil er talentierter und charmanter war als die männliche Dorfjugend.»
Am 23. März 1933 musste Vico Oberrüti verlassen. Schwester Sonia kam zu Verwandten nach Zürich. «Begleitet von einem Mitglied der Gemeinde Oberrüti, reiste er zu seinem Vater, der zu dieser Zeit als Pferdepfleger, Reit- und Skilehrer in Davos stationiert war», erinnert sich Franz Stöckli. «Und weil er Vico nicht bei sich behalten konnte, schickte ihn der Vater, der ein grosses Alkoholproblem hatte, als Abwaschbueb – heute nennt man das Casserolier – in ein Hotel nach Lausanne.» In der Hotelküche merkten die Köche bald, dass der Handlanger viel Talent fürs Kochen hatte. Deshalb durfte er in der Küche mithelfen und manchmal auch mitkochen, wenn er seine andere Arbeit erledigt hatte.
In der Zwischenzeit sah Franz Stöckli Vico einmal in Arosa. Seine Erinnerung daran: «Von seinem traurigen Aufwachsen mit Hunger und Ausgrenzung trug er schon früher schwarze Augenränder und hatte Tuberkulose bekommen. Zweimal musste er zur Kur ins Sanatorium. Mit der Militärmusik, die ich dirigierte, spielten wir im WK für die TB-Kranken ein Ständchen, die im ‹Hotel Altein›, dem Lungensanatorium der Stadt Zürich, auf Balkons an der frischen Luft lagen. Einer dieser Kranken im dritten Stock war Vico. Wir sprachen aber nicht miteinander.»
Zurück nach Oberrüti sei Torriani nur einmal gekommen. «Er erinnerte sich an die grosse Linde auf dem Dorfplatz, die heute leider nicht mehr steht.» 1955 sagte er eine Klassenzusammenkunft ab mit der Begründung, er erinnere sich nicht an die Namen der Mitschüler. Zudem sei er für Plattenaufnahmen mit Mantovanis Orchester in London. Jahre später, er war längst ein Superstar, gab die Dorfmusik Oberrüti, die Franz Stöckli als Dirigent leitete, bei einer Reise ins Tessin in Agno vor Vicos Haus ein Ständchen. «Wir wollten ihm Fotos von damals zeigen. Ich läutete an der Haustüre. Heraus kam seine Frau Evelyne, die behauptete, er sei nicht zu Hause. Wir sollten die Bilder in den Briefkasten legen. Wir spürten, dass er doch da war, und sagten uns, wenn er uns schon nicht sehen will, dann nehmen wir die Fotos wieder mit zurück.»